Am frühen Morgen. Minus drei Grad. Die Welt wacht auf in einem Himmel aus Sepia und mein Atem bildet Wölkchen in der kalten Luft. Es ist halb sechs, eine unchristliche Uhrzeit. Ich spüre mit jeder Faser, dass das nicht meine Uhrzeit ist, und doch hat es was für sich, so früh aufzustehen. Die Welt ist so klar und unberührt, noch liegt sie im Dunkeln, nur der rauchige Sepiaton kündigt den Tag an. Der intensive Gesang der kleinen Vögel klingt durchdringend, ist das einzige Geräusch, noch nicht besudelt vom stetigem Rauschen des Verkehrs, welches sich später wie ein empfangsgestörtes Radio für den Rest des Tages einstellen wird. Noch begleitet mich nur die Stille.
Müde reibe ich die Hände aneinander. Die klare Eiseskälte vermag in kürzester Zeit, jeden Rest an Wärme aus meinem Körper zu vertreiben. Das Frühstück wartet. Und die Arbeit.
Das frühe Aufstehen hat einen gewaltigen Vorteil: wer um kurz nach sechs mit der Arbeit beginnt, hat bereits um halb drei Feierabend. Und der Tag ist echt geil. Es ist einer dieser perfekten Tage, an denen alles möglich ist und der nach rausgehen schreit. Dezent ignoriere ich die Tatsache, dass der Schein trügt, dass momentan gar nichts geht. Wir haben ja noch immer die Corona-Krise, die Corona-Zeit. Es ist ein einschneidendes Ereignis, das die Welt mit einem Schlag zum Stehen gebracht hat. Die Welt, die sich drehte, die sich schneller und schneller zu bewegen schien. Jetzt steht sie still. Die Menschen stehen still. Alle warten ab.
Aktuell sind viele Firmen auf Kurzarbeit umgestellt worden. Die Kunden zu besuchen ist nicht drin, so bleibt mein Partner zu Hause und harrt seines weiteren Schicksals und ich, ich bin in Langenhagen und lasse mich für Lagertätigkeiten zweckentfremden. Noch traf uns nicht das Schicksal der Kurzarbeiter, noch bleibt alles beim Alten. Fleißig packen und konfektionieren wir Kartons. Die Auftragslage ist gut und die Bänder scheinen kaum still zu stehen, jede Hand wird benötigt. Und ich bin froh, raus zu kommen, ja sogar eine längere Strecke fahren zu dürfen in einer Zeit, in der selbst das Gassi gehen mit dem Hund kritisch beäugt wird. Heute erhielt ich das Privileg der Pendler-Bescheinigung.
Es ist nicht das gleiche wie der Außendienst, doch die Tätigkeiten machen Spaß. Alles ist besser als zu Hause zu bleiben und depressiv zu werden. Beginnt mir jetzt schon das Herumfahren zu fehlen? Ich überlege kurz, ob ich ans Meer fahren könnte. Einfach nur kurz, nur mal aussteigen und winken. Einen Moment lang frei fühlen. Dann ist mir das Risiko doch zu groß. Und der Weg von Hannover aus zu weit.
Die Regale bei DM und Co. Erschrecken den potentiellen Käufer mit ihrer Leere. Wo sich Nudeln, Konserven und Toilettenpapier befinden sollten, klaffen große Löcher. Es wirkt wie auf Kuba oder in der DDR. Ich schaffe es, eine Packung Toilettenpapier zu ergattern. Ordner in Warnwesten achten im Supermarket auf Ordnung und Abstand. Ich mag mir fast die Augen reiben vor Ungläubigkeit, als ich die beiden vollen Paletten erblicke. Jeder Kunde darf sich nur eine Packung Toilettenpapier mitnehmen. Strahlend und freudig verlasse ich den Markt, meine Beute fest mit beiden Händen umschlossen. Und muss über das Surreale der Situation lange und herzlich lachen. Stolz wie Bolle wegen einer Packung Klopapier; mal ehrlich, hättet ihr gedacht, dass wir mal in solchen Zeiten leben würden?
Die Ausgangssperre kam nicht. Stattdessen kam eine von einigen kritisierte Ausgangsbeschränkung. Höchstens zwei Personen dürfen sich draußen gleichzeitig aufhalten, aus demselben Haushalt und es sollen sich keine Menschengruppen bilden. Schon auf dem Weg nach Hannover sah ich in Mannheim eine extrem hohe Polizeipräsenz. Die Einhaltung der Regeln wird kontrolliert, es drohen Geld- und Haftstrafen.
Das war in Mannheim. Dann folgt der lange Weg nach Langenhagen bei Hannover. Ein Tag Lagerarbeit und ein langer Spaziergang.
Die Welt erblüht. Ein Traktor fährt auf einem Feld und pflügt die Erde um. Die Landwirtschaft spürt nun schmerzhaft das Fehlen der Saisonarbeiter; bei uns im Süden fehlen Erntehelfer für den alljährlichen Spargel. Die Spargelpflanzen beginnen bereits, aus der Erde zu schießen, doch es gibt niemanden, um sie abzuernten. Den Bauern drohen Totalverluste.
Schnellen Schrittes laufe ich vor mich hin. Es ist ungewohnt, sich einfach so ungestraft draußen bewegen zu können. Eigentlich sollte ich zu Hause sein oder im Hotel, um sich nicht anzustecken, doch diese kleine Freiheit, die nehme ich mir jetzt mal raus. Spazieren ist erlaubt und die Zeiten, in denen Menschen in Rudeln draußen umherliefen, sind bereits vorbei. Ich treffe kaum eine Menschenseele. Und wenn, dann läuft man beschämt aneinander vorbei, ohne Blickkontakt aufzunehmen, und versucht, sich mit möglichst viel Abstand an dem anderen zu manövrieren. Ja keinen Kontakt aufnehmen, sei es nur beiläufig.
Und ich versuche, mich zu erinnern, wie es war, als man mit Menschen noch ganz normal ins Gespräch kam. Als man sich vielleicht eine Aufnahme auf dem Handy zeigte, oder nach dem Weg fragte. Als sich Bekanntschaften ergaben, oder nur längere Gespräche, einfach so. Ohne Angst vor Corona. Denn damals war die Welt noch in Ordnung, Menschliche Kontakte möglich.
Damals war die Welt noch normal.
Wie ungewohnt, wie seltsam es doch ist, alles Zwischenmenschliche zu meiden und wie sehr es nun auffällt, wie wichtig kleine Gesten der Vertrautheit doch sind. Da, wo man sich unter Kollegen noch die Hand gegeben hat, wird jetzt lediglich in die Runde gewunken, wobei das Winken auch als eine Art Abwehrhaltung verstanden werden kann. Bleib bloß weg von mir.
Vor dem Einsatz im Warenlager wird die Körpertemperatur gemessen. Zur Sicherheit mache ich das jetzt täglich. Inzwischen aus Gewohnheit, genauso wie ich aus Gewohnheit die interaktive Karte der aktuellen, deutschlandweiten Corona-Infektionen checke. Witze und lustige Videos vermehren sich und werden geteilt. Humor ist der Ausweg aus der Krise. Zumindest für den Kopf, für einen Moment. Denn das Beste, was wir aktuell machen können, ist lachen. Und zu Hause bleiben. Voneinander wegbleiben.
Wann können wir wieder ohne Angst inmitten von Menschen sein? In der Menge baden. Volle Stadien, Konzerte, lebendige Fußgängerzonen – all das erscheint nun wie ein ferner Traum. Nein, ich ärgere mich nicht darüber und nein, es geht nicht darum, sich zu amüsieren. Es geht um den Kontakt. Um die Nicht-distanz, um einen angstfreien Umgang miteinander, der momentan einfach nicht gegeben ist. Jeder verhält sich, als hätten die anderen eine Seuche. Und vielleicht haben sie sie auch.
Als die Welt noch normal war, zog ich los, einfach so. Sah mir die Welt an. Tauchte in vollen Städten unter. Ich war immer für mich, doch immer unter Menschen. Die Einsamkeit kam nie auf. Auch nicht die Angst.
Jetzt zucken Menschen zusammen, wenn sie anderen Menschen begegnen. Im Supermarkt vollführt man regelrechte kleine Tänze, um die vorgeschriebenen Ein-Meter-fünfzig einzuhalten. In einer Schlange stehen geduldig Kunden vor dem Markt, einige mit Mundschutz auf ihrem Gesicht. Ein selbst beiläufiger Kontakt mit einem anderen Menschen erfüllt mit Angst.
Ich hätte mir so ein Szenario niemals vorstellen können.
Ich genieße meinen Spaziergang, den Auslauf, den ich noch habe. Viele Menschen zieht es raus in die Natur. Es ist die einzige Möglichkeit, denn alles andere hat zu. Die Straßen sind leer. Aber das hatten wir ja schon. Seit Corona sind sie immer leer.
„Wie friedlich das doch aussieht.“ Schreibt Stefan, als ich ihm ein Foto von einem stillen, grünen Teich schicke. „Ja.“ Antworte ich. „Sieht so gar nicht nach Corona aus.“ Und nach der Distanz, nach der Zukunftsangst. Die Sonne scheint der Bedrückung ins Gesicht zu lachen.
Ich wünschte, ich könnte es auch.
Liebe Kasia,
und draußen wird es still und leise Frühling, während wir in unseren Häusern sitzen. Bei uns ist die Lage so, dass mein Mann schon sehr, sehr früh unterwegs ist und ich im Homeoffice bin.
Ich bin zwar ein ausgesprochener Morgenmuffel aber es gibt Tage, an denen ich früh wach bin. Wenn ich dann, z. B. im Urlaub, in der Natur war, fand ich die Stimmung großartig. Die Vögel singen überall und es ist noch so friedlich.
Du hast die ganze Atmosphäre, deine Gedanken und die jetzige Situation wunderbar beschrieben.
Schönes Wochenende und bleibt gesund.
Renate
Hallo liebe Renate,
irgendwie hat man sich an diese seltsame Stimmung draußen schon fast gewöhnt. Manchmal treibt mich der Gedanke um, mal ins Auto zu steigen und irgendwohin ins Grüne zu fahren, nur ich alleine – verboten wäre das nicht. Aber da ist ja auch noch der Nachahmungseffekt, weshalb ich „Ausflüge“ dieser Art bleiben lasse.
Ein Morgenmuffel bin ich auch und stehe freiwillig nie vor neun auf, außer irgend etwas zwingt mich dazu. Und habe ich mich einmal überwunden, ist die Stimmung draußen um die Zeit großartig!
Vor Home Office konnte ich mich bisher durch die Lagerarbeit drücken, mal sehen, wie lange das noch so geht 😉
Ich wünsche Euch auch alles Gute und passt auf Euch auf.
Kasia