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Die Welt im Standby- Modus

Die Toilettenräume einer Raststätte bei Würzburg. Die Dame vor mir zuckt zusammen, als ich mich an den Waschbecken neben sie stelle. Gewissenhaft wäscht sie ihre Hände, trocknet sie sachte mit einem der schroffen, grünen Papiertücher ab. Mit dem Ellbogen öffnet sie ungelenk die Tür, ehe sie draußen im Verkaufsraum der Tankstelle verschwindet.

Das Virus ist wie eine Trennwand zwischen den Menschen. Wie eine unsichtbare Linie. Es lässt uns auf Dinge achten, an die wir früher keinen Gedanken verschwendet hätten. Das Virus nährt die Angst.

Die Straßen seltsam leer. Als wäre die Welt festgefroren wie ein Standbild. Niemand scheint es eilig zu haben. Ganz so, als könnte jetzt eh nichts mehr passieren. Und auch ich fühle mich, als würde ich durch eine Traumwelt taumeln. So geht es mir schon seit Tagen.

Die ganze Welt hält den Atem an.

Ungeachtet dessen explodiert die Natur. Die Bäume, die Sträucher, die Blüten. Alles öffnet sich. Mit einem Male ist der Frühling da, nicht in kleinen Schritten, sondern mit seinen großen Stampfern unterwegs. Das neue Jahr ist da.

Und zugleich: das neue Jahr ist gelaufen.

Jeder Nieser, der der jährlichen Pollenallergie geschuldet ist, geschieht im Verborgenem, abseits der Menschen, begleitet von schlechtem Gewissen. Jedes Hüsteln wird skeptisch beäugt. Denn ich könnte ja an dieser tödlichen Seuche erkrankt sein.

Die Natur greift in die Vollen, die Farbenpracht will den Eindruck erwecken, als würde das Leben seinen gewohnten Gang weiter gehen. Doch das tut es nicht.

Was habe ich neulich bei Facebook gelesen: 2020 ist ins Wasser gefallen. 2020 wurde abgesagt. Buchstäblich. Zur Ausgangssperre ist es nur noch ein kleiner Schritt. Glücklich, wer einen Balkon, eine Terrasse oder einen Hund hat.

Doch auch jetzt versuchen so viele wie möglich zu Hause zu bleiben. Zumindest scheint es so. Viele Berufsreisende sind auf Kurzarbeit umgestellt worden oder in Home Office. Daher also die leeren Straßen. Als wäre die frühlingshafte Geisterstunde angebrochen. Noch erscheint es mir wie ein vorübergehender Zustand. Als reiche es aus, sich zu schütteln, um aus diesem Traum aufzuwachen. Und alles wird wieder so wie vorher.

Der Kopf hat es noch nicht begriffen.

Es fühlt sich so unecht an, diese Apokalypse, die jetzt unser Leben ist. Geschieht es wirklich hier und jetzt, und: geschieht es uns?

Ich las mal ein Buch, eine surreale Geschichte, von der ich weder den Autor noch den Titel noch weiß. Doch die Handlung hat sich eingebrannt. Ein Mann verlässt ein Gebäude. Ein normaler Morgen, doch etwas ist anders. Die Straßen, die Häuser, die Geschäfte – alles ist geisterhaft leer. Kein Mensch weit und breit. Als wären alle gestorben. Oder noch schlimmer als das: als wären sie verdampft. In eine andere Welt diffundiert. Und als sei man der letzte Mensch auf der Erde, zur Einsamkeit verdammt.

So fühle ich mich, als ich an diesem Vormittag nach Hannover fahre. Gut, so schlimm ist es nicht. Es sind vereinzelt Personen zu sehen, der letzte Mensch bin ich nicht. Aber es sind so wenige, derart wenige, als sei ein Großteil der Bevölkerung verreist. Was ja gar nicht sein kann, denn so etwas wie Urlaub, ja, so etwas wie normales, soziales Leben hat sich für uns alle vorerst erledigt. Für jeden, unabhängig davon, ob jung oder alt, reich oder arm, unabhängig davon, aus welchem Teil der Welt er kommt. Das Corona-Virus ist ein faires Virus.

Kein Urlaub mehr also, kein Pauschal- oder Massentourismus. Der Verkehr auf dem gesamten Globus ist bis auf weiteres zu einem großen Teil gestoppt. Keinen Zank mehr darüber, ob Pauschal- oder Backpacking das einzig Wahre ist, ob es Reisen oder Urlaub oder beides genannt werden darf. Jetzt sind die Grenzen dicht, jetzt reist keiner von beiden. Basta.

Was Greta nicht geschafft hat, wird das kleine Virus hinbiegen. Die Natur ist dabei, sich zu erholen. Es sind schon wieder Delphine in den venezianischen Kanälen gesichtet worden, das erste Mal seit über sechszig Jahren. Der ganze Schatz der Natur wird uns zurück gegeben. Was werden wir daraus machen, später, wenn wir wieder hinaus in die Welt dürfen? Was werden wir lernen?

Können wir sogar noch das Ruder herumdrehen und die Klimaerwärmung stoppen? Die Wissenschaft warnte so oft, es sei fünf nach zwölf. Nun steht alles still. Reicht es noch aus oder ist es zu spät? Denn seien wir mal ehrlich: aus klimatischer Sicht ist das Virus das beste, was der Erde passieren konnte.

Hätten wir all diese Einstriche von alleine umgesetzt, ohne den kalten, siffigen Hauch der Pandemie im Nacken zu haben?

Nein, das hätten wir nicht. ICH hätte das nicht. Die anderen hätten das nicht. Jeder hätte auf den anderen geschaut. Niemand hätte an einem Strang gezogen. Ich war sehr pessimistisch. Ich war der Meinung, das mit dem Klimawandel schaffen wir eh nicht mehr. Nicht so, nicht in diesem Tempo.

Jetzt haben wir eine Chance. Denn plötzlich: siehe da! Jeder rückt zusammen, alles ist möglich.

Wobei das zusammenrücken auch wieder im übertragenen Sinne gemeint ist. Wer seine Freunde und seine Familie liebt, bleibt ihnen fern. Zu ihrem Besten. Was plötzlich alles machbar ist. Was alles bewegt werden kann (oder in dem Falle: nicht mehr bewegt werden wird…). Flugzeuge stehen still. Kollegen versenden Bilder von leeren Straßen, von leeren Großstädten. Berlin – wie ausgestorben. New York – wie ausgestorben. Die Länder machen ihre Grenzen dicht. Das erste mal seit… wie vielen Jahren? …gibt es keine Bewegungsfreiheit, keine Reisefreiheit mehr. Schengen – abgeschafft. Venedig, Mailand… gespenstisch leer. Als hätte es die Menschen nie gegeben.

Es kam mal eine Sendung, die folgendes zum Thema hatte: was wäre, wenn die Menschheit plötzlich von der Erdoberfläche verschwinden würde? Von jetzt auf gleich? Wie würde sich die Natur die Räume zurück holen? Wie – und vor allem wie schnell – würden die Wunderwerke unserer Zivilisation zerfallen? Unsere Spuren verwischt werden?

Die aktuellen Bilder erinnern mich daran. Sie sind so unwirklich. Was wird jetzt als nächstes geschehen? Stefan schickt mir Bilder von seiner Motorradtour. Leuchtend rote Maschine im Sonnenschein. „Genieße die Fahrt.“ Schreibe ich ihm. Ja, genieße das Biken, so oft du noch die Möglichkeit hast, denn die Rufe nach einem Shut-down werden lauter, sogar aus der Bevölkerung selbst.

Die Rede der Kanzlerin appelliert an die Nation. Seid vernünftig, bleibt zu Hause. Sonst müssen wir euch die Entscheidung abnehmen.

Seit wann sind Menschen vernünftig?

Für mich ist eine Ausgangssperre nunmehr eine Frage der Zeit.

Vielleicht wird uns das Virus verändern. Unsere Art zu denken. Unseren unbegrenzten Konsum. Fragt sich nur, für wie lange. Denn unsere Generation hat so etwas Abstraktes wie Mangel und Einschränkung nie kennen gelernt. Und das muss sie jetzt. Eben auf die harte Tour. Wobei man noch nicht von Mangel und Einschränkung sprechen kann.

Plötzlich muss ich an meine ehemalige Kollegen in der Apotheke denken. Wie es ihnen wohl geht? Diese Jobs sind sicher, doch andererseits gehört pharmazeutisches Personal zu den momentan am meisten gefährdeten Spezies. Täglich im Kontakt mit kranken, schlecht gelaunten und ungeduldigen Menschen, mit panischen Menschen, mit ganz vielen Menschen. Der Run auf die Apotheken ist im Moment sehr groß. Den Apothekenmädels werden wohl aktuell die Fußsohlen brennen.

Was wird mit dem Reisen? Später, meine ich? Denn jetzt ist daran natürlich nicht zu denken. Doch was wird sich verändern, für mich ganz persönlich? Werden sich meine Reiseziele wandeln? Werden bestimmte Dinge eine ganz andere Priorität erhalten? Werde ich bewusster reisen? Werde ich eher dazu neigen, mir lang gehegte Träume zu erfüllen, begleitet von dem Wissen und der Erfahrung, wie schnell sich alles plötzlich ändern kann?

Werden die Reisen nur langsam wieder anziehen oder ganz plötzlich und tsunamiartig? Wird eine Welle reisehungriger Touristen über die Landesgrenzen schwappen und sich von Europa, USA und China aus kommend, über die ganze Welt ausbreiten? Wird unser Reiseverhalten durch diese temporäre Abstinenz noch schlimmer werden als vorher?

Reisesüchtig. Wie oft und wie leicht kommt einem dieser Begriff über die Lippen. Reisesüchtig. Doch ist es wirklich so? Sind wir denn wirklich nach dem Luxusgut Reise süchtig geworden? Wir sagen immer so leicht daher, dass wir ohne dieses oder jenes nicht können. Auch ich sagte oft, dass ich ohne das Reisen nicht könnte. Doch das ist nicht wahr. Denn wir Menschen passen uns – und das ganz gut – der gegebenen Situation an. Und 2020 ist im Bezug auf Reisen gestrichen.

Dann wird eben die Wohnung renoviert. Bücher gelesen, die schon so lange in der Ecke herumlagen. Lass es sogar Reisebücher sein. Es werden Geschichten geschrieben. Lass es sogar Reisegeschichten sein. Ja, ich werde schreiben. Ganz viel. Denn ich habe noch so viele Geschichten zu erzählen. Und dadurch wird mir auch bewusst, wie viel ich eigentlich schon erlebt habe.

Die Geschichten der vergangenen Reisen, für die ich bisher keine Zeit hatte. Wie oft habe ich mir für das Schreiben mehr Zeit gewünscht? Wie oft habe ich mir gewünscht, auf die Standby-Taste zu drücken, um all das Erlebte nieder zu schreiben?

Jetzt kann ich das. Die Standby-Taste ist da.

Ein wenig anders zwar als ich es mir gewünscht hätte. Ein wenig radikaler. Sie erscheint in Form einer kleinen Kugel mit Spikes.

Die Wohnung wird blitzblank geputzt. Es werden Wände gestrichen. Ein Pullover gestrickt. Eltern haben Zeit für ihre Kinder. Wollte man denn nicht schon immer mehr Zeit für die Familie? Eheleute haben mehr Zeit füreinander (ob das für einige so gut ist, steht auf einem anderen Blatt…). Und – oh guck mal da! – Brettspiele werden wieder unter dem Bett hervorgeholt. Die Schicht Staub sachte herunter gepustet. Etwas ungewohnt, das ganze. Hat man ja lange nicht mehr gemacht.

Und wie wäre es damit, etwas für den Garten zu tun?

Zeit habe ich nun genug. Keinerlei neue Eindrücke mehr. Keinerlei neue Kulturen, neue Gerüche, neue Landschaften. Keine neuen Reisen mehr. Nur die Reflexionen. Falls wieder machbar, dann das Reisen innerhalb Deutschlands. Doch auch hier verändert sich die Lage täglich. Stündlich. Und im Grunde warten alle nur noch auf die Ausgangssperre, die vielleicht kommt – und vielleicht auch nicht.

Zeit für den Garten? Zeit fürs Aufräumen, Ausmisten? Zeit zum Träumen? Zeit, sich auf all die Dinge zu freuen, die man danach machen wird? Denn danach, das wird nach Corona sein. Und dann werden sich Ströme lebenshungriger Menschen auf die Straßen ergießen. In die Städte, in die Cafes, Restaurants und auch aufs Land. Freunde, die sich lange nicht gesehen haben, werden Zeit miteinander verbringen. Familien, entfernte Verwandte kommen wieder zusammen. Corona wird besiegt sein. Und wir werden Posts darüber verfassen, froh, es überstanden zu haben.

Noch ist es nicht soweit, noch sind wir mittendrin. So langsam gewöhnt sich der Geist daran. So langsam akzeptiere ich die Notwendigkeit, zu Hause zu bleiben, das soziale Leben vorerst still zu legen. All das ist unsere neue Realität. Unsere neue Routine. Unser neuer Alltag.

Doch auch das geht vorbei. Alles geht vorbei. Und dann geht das Leben wieder seinen gewohnten Gang. Nur besser.

Update: Freitag, der 20 März 2020

Ich bin auf dem Rückweg von Hannover nach Mannheim, die siebentausend Infektionen sind nur noch ein feuchter Traum, denn die Anzahl hatte sich in den letzten drei- bis vier Tagen mehr als verdoppelt. Es sind bereits achtzehntausend. Über eine bundesweite Ausgangsbeschränkung oder gar Ausgangssperre wird heute Nacht beraten. Die Autobahnen sind gespenstisch leer. Auf dem Foto: die A81 von Würzburg nach Stuttgart.

Die A6 Stuttgart-Mannheim sieht genauso aus. Das Bild wurde von meinem Beifahrer um halb vier aufgenommen. Freitag Spätnachmittags, Rushhour. Es ist beängstigend.

Die Tankstellen haben Plexiglasscheiben und Abstandsmarker. Auf den Autobahnen können die paar verbliebenen Fahrzeuge, die noch da sind, ordentlich auf die Tube drücken – die meisten tun es dennoch nicht. Die mich umgebenden Verkehrsteilnehmer kann ich an einer Hand abzählen. Und mich gruselt es.

Dann lieber Stau, dann lieber Gehupe und Gedränge, so wie ich es kenne. Denn das hier, das ist unheimlich. Diese Leere ist schlimmer als alles andere.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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