Nachts um null Uhr Ortszeit verlasse ich Amman.
Die Verabschiedung ist emotional, besonders Fran hat dabei schnell Pipi in den Augen. Djamals* Frau kocht für uns ein Gericht namens Kufte Tanije, Hackfleischbällchen in einer würzig-fruchtigen Soße und nach dem Essen tauschen Fran und ich jeweils unsere Reisebilder aus.
Djamal* lässt es sich nicht nehmen, mir nochmals eindringlich einzutrichtern, worauf ich am Flughafen bei der Fahrzeugabgabe zu achten habe und sein ältester Sohn Falid* versucht, mich von der Notwendigkeit der Nachwuchplanung zu überzeugen. „Du brauchst ein Kind. Wirklich, auch wenn es nur eines ist. Du brauchst wirklich ein Kind.“ Ich lasse seine Bemühungen gerne zu, sind sie doch für mich ein Zeichen der Sorge denn der Bevormundung und zudem eine gute Gelegenheit, etwas mehr über die Kultur der Menschen zu erfahren, über die absolute, gelebte Überzeugung, dass Familie an erster Stelle steht. Hier in Jordanien sind es nicht die Worthülsen, hier wird danach gehandelt. Alles läuft über Familie, die Familie verwaltet das Geschäft und stellt das eigene soziale und emotionale Leben hintenan.
Jetzt, hier in Mannheim, habe ich zum ersten Mal wieder das Gefühl, für mich zu sein und wirklich in mich gehen zu können. Und es fühlt sich ungewohnt an. Die Stadt ist so leer, die Stadt ist so still. Das Rauschen der Bäume wird nicht vom Trubel der Straße übertönt, nicht vom Hupen, Rufen und dem Gesang des Muezzin. Kein Kommen und Gehen, Zeit für mich. Ein bewusstes Erleben des fahlen Oktoberlichts, der Meise, die von Zweig zu Zweig springt, Flugzeuge, die nur ab und zu zu hören sind und in der Ferne – das fröhliche Rufen der Kinder beim Baden im See.
Doch vor meinem geistigen Auge versinken meine Füße im roten Sand von Wadi Rum und es ist, wenn ich jetzt so wieder in der vertrauten Umgebung aufwache, als wäre ich nicht dort gewesen. Nur der ungläubige Blick auf meine ehemals weißen Turnschuhe, die von einem roten Schleier überzogen sind, offenbart mir: dies war kein Traum.
Ja, Jordanien war eines der Länder, das ich trotz seiner Schönheit am Ende doch froh war, wieder zu verlassen. Ich habe erlebt, gesehen, ich war dort, doch ich habe größtenteils nur funktioniert. Denn auch wenn meine Seele misstrauisch versuchte, die Größe der Wüste und all dessen, was mich umgibt, in ruhigen Augenblicken zu erfassen, so war es trotzdem wie das Anschauen und Anfassen eines Films, der vor den eigenen Augen ablief. Was hätte mich von der Echtheit des Gesehenen überzeugen können?
Ich kam an, damals vor einer Woche, und ich fühlte mich verloren und fremd. Erfüllt von einer panischen Angst, etwas, irgend etwas falsch zu machen und gleichzeitig im vollen Bewusstsein darüber, dass allein schon die Tatsache, als Frau alleine hier zu sein als Fehler ausgelegt werden könnte.
Ich war im Souk von Amman, in der zweitausend Jahre alten Mosaikstadt Madaba, ich sah den Norden und die Grenze zu Syrien, hörte die Detonationen und das Echo der Kämpfe.
Ich sah die antike Stadt Jerasch.
Ich sah Petra, wo ich das erste Mal eine vage Idee davon bekam, wie etwas Legendäres auszusehen vermag. Ich lernte, Menschen zu vertrauen. Ich lernte, Menschen zu misstrauen. Ich traf Menschen, die so gerissen waren, dass ich es mit der Angst bekam. Ich traf Menschen, so gut, so hilfsbereit und uneigennützig, dass mein Herz voll war von unausgesprochenen Worten.
Ich sah die Wüste von Wadi Rum. Eine Legende. War ich dort? Ich sehe mich im Jeep sitzen, die Fahrt rüttelt uns durch, ich sehe mich durch den roten Sand laufen. So weit entfernt. War es echt?
Zweimal dachte ich, es ist vorbei; es waren zwei kritische Momente, in denen ich einfach Glück hatte. Einmal am dritten Tag, als ich mit Fran just einen Meter vor der syrischen Grenze stand und uns das Militär aufgriff. Die Grenze wurde vom Jarmuk-Fluss gebildet und dieser floss grün genau an uns vorbei. So leicht hätte man uns von der anderen Seite aus, von hinter den Bergen erschießen können, denn wir leuchteten mit unseren blonden Haaren wie die Fackeln in der Sonne. Ich hatte nicht damit gerechnet, dorthin zu kommen, so hatte ich nicht einmal etwas dabei, um oberflächlich meine Haare zu bedecken. Es war wie in einem Computergame, in dem du dich immer weiter und weiter begibst. Es war echt.
Wir hätten so leicht verhaftet werden können. Dass es nicht so war, war einzig der Tatsache geschuldet, dass der Offizier, der uns entdeckte, rangniedriger war als der, der uns hinein ließ.
Nun, nachts um zwölf, verlasse ich Amman, steuere das Auto durch die fast leeren Straßen. Tagsüber war ich froh, nicht hier entlang fahren zu müssen, denn der Verkehr toppt noch Bukarest.
Bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen geht mein Herz nochmal gen Boden, als standardmäßig die Kameras der Fluggäste kontrolliert werden.
Die Bilder von der militärischen Sperrzone an der Grenze zu Syrien gehen mir durch den Kopf. Sie sind immer noch drauf…
Eigentlich wollte ich diese noch im Hotel in die Dropbox-Cloud übertragen, doch ich ließ es bleiben – zum einen, da es mir an einer ruhigen Minute dafür mangelte, zum anderen dachte ich, dass es nun wirklich mit dem Teufel zugehen müsste, wenn die Sicherheitskontrolle ausgerechnet jetzt damit beginnt, aufgenommene Dateien zu überprüfen. Diese Möglichkeit erschien mir so abwegig.
Nun ist sie Wirklichkeit geworden.
„Kamera! Kamera!“ Rufen sich die Männer gegenseitig zu. Ich lasse meine Spiegelreflex draußen und packe den restlichen Kram wieder in meine Tasche ein. Mein Handy interessiert sie nicht. Dann stehe ich da und beobachte, wie der Frau vor mir penibel die Handtasche kontrolliert wird. Der Beamte ist sehr genau und zählt selbst die Scheine im Geldbeutel der Passagierin.
Doch ich habe Glück. Zuerst werden andere Handtaschen überprüft. „Kamera! Kamera!“ Ertönt es bei jedem Passagier, der eine hat. Meine „Kamera Kamera“ liegt einige lange, schwere Augenblicke auf dem Band und wird schließlich übersehen. „Deine?“ Fragt mich anschließend der Beamte und deutet an, dass ich sie einpacken und weitergehen soll.
Anschließend im Gate habe ich fast eine Stunde Zeit. Ich nicke ein.
Ich werde davon wach, dass mich jemand sanft an der Schulter rüttelt und „Excause me, excause me!“ sagt. Ich blinzele und blicke in das Gesicht eines jungen Mädchens, das mich unter einem bordeauxrotem Kopftuch mit scheuen, braunen Augen anschaut. Das Gate ist fast leer und die Menschen stehen bereits Schlange, um an Bord der Maschine zu kommen. Sie hatte gesehen, dass ich noch schlafe und hat mich geweckt, ansonsten hätte ich eiskalt, so übermüdet wie ich war, meinen Flug nach Bukarest verpasst. Es ist, als sei ein guter Geist aus der Wüste des Wadi Rum vom sternenklaren Himmel selbst gesandt worden, um auf mich Acht zu geben. Einzig die Tatsache, dass ich sie nun ebenfalls mit anderen Passagieren im Flugzeug stehen sah, war ein Beleg dafür, dass sie existierte, ansonsten hätte ich wohl an eine Erscheinung geglaubt.
Manche Menschen werden uns aus einem bestimmten Grund geschickt, in diesem Moment glaube ich ganz fest an diese Tatsache. So wie Fran, die mich durch all die Zeit begleitete. So wie Mira. Wie dieses Mädchen hier.
Nach der zweiten Sicherheitskontrolle am Gate angekommen krame ich in meiner Tasche rum, als mein Blick auf etwas rundes, grünes fällt. Erstaunt betrachte ich die Frucht, die mir Djamal* noch in Amman vorsorglich für unterwegs in die Hand gedrückt hatte. Zwei Sicherheitskontrollen, eine penible Durchsuchung der Passagiere – doch die Orange in meiner Handtasche hatte keiner beanstandet…
*Namen geändert