…Sie deckt nacheinander alle vier Karten auf, die auf der Rückseite leer sind. Dann nimmt sie die letzte Karteikarte in die Hand, die, auf der sie intuitiv den Ring abgelegt hatte. Auf der Rückseite ist eine Schrift zu sehen, ein Satz. Sie liest ihn vor. „Du wirst den Ring auf diese Karte legen…“
Spuktheater, Erster Akt
Wir irren über das Gelände. Es ist Abend und noch nicht dunkel, aber die blaue Stunde kommt immer näher an diesem Frühlingsabend. Doch die kalte Luft und der wolkenbehangene Himmel lassen vielmehr an einen düsteren Novembertag denken. Über einen mit Graffiti besprühten Baustellenzaun hinweg ragt das Riesenrad der Kirmes in den Himmel hinauf. Die Beleuchtung ist aus und auch die geschlossenen Hütten lassen ein Gefühl der Verlassenheit aufkommen. Doch wir sind zu sehr mit dem beschäftigt, was uns bevorsteht, um uns um die Kirmes zu kümmern.
Das längst stillgelegte Gelände des Alten Schlachthofs in Karlsruhe ist weitläufig. Hier und da begegnen uns Menschen, die hier und da eine Veranstaltung besuchen oder in einem Restaurant mit Livemusik essen wollen. Denn das ist der Alte Schlachthof nun – ein beliebter Veranstaltungsort mit einer düsteren Atmosphäre.
Wonach wir suchen, ist das Kühlhaus, der Raum, in dem die Ochsen – und Schweinehälften fröhlich vor sich hin baumelten und den man wohl kaum betreten konnte, ohne Gänsehaut zu bekommen. An einer etwas abgegriffen wirkenden Kneipe stehen ebenso wirkende Gestalten und meine Freundin ziert sich, an ihnen vorbei zu laufen. Doch wir sind hier richtig, die Kacheln an der Außenfassade deuten auf das ehemalige Kühlhaus hin. Wir begeben uns zu einem überdachten Seiteneingang, doch die Tür zu den Räumlichkeiten des Spuktheaters ist abgeschlossen. Wir sind sehr früh da.
„Kann ich Ihnen helfen? Sie sehen so suchend aus.“ Über unseren Köpfen steht ein älterer Mann am offenen Fenster. Die Räume werden um halb acht geöffnet. Wir haben noch Zeit. „Sie haben das mit dem pünktlichen Kommen aber sehr ernst genommen!“
Wir vertreiben uns die Zeit in einem der Lokale bei einer warmen Suppe. Inzwischen ist es draußen düster geworden. Pünktlich um halb acht stehen wir wieder vor der besagten Tür.
Spuktheater, zweiter Akt
Die Tür fällt langsam und quietschend hinter uns zu. Wie passend, kann ich mir in Gedanken nicht verkneifen. Wir steigen eine metallene Treppe hinauf und das Echo unserer Schritte hallt uns um die Ohren. Ja, sehr stimmungsvoll, das Ganze, es wird ein schöner Abend werden! Ein älterer Mann mit Hut und Brille kommt uns entgegen. „Willkommen, willkommen!“
Der Raum liegt in Zwielicht und ist nur mit Kerzen erleuchtet. Eine angenehme Wärme kommt uns entgegen und ein eigenartiger, balsamischer Duft erfüllt die Luft. Die spärlichen Möbel bestehen aus einer Couch, einem großen, runden Tisch und Stühlen, die um denselben drapiert sind. Zwei Besucherinnen sind bereits da, es sind Mutter und Tochter, die bereits erwartungsvoll dasitzen. „Bitte nichts anfassen!“ Sagt der Mann. „Wer weiß, wie die Geister sonst reagieren…“ Dann verlässt er den Raum und wir bleiben wartend zurück.
Auf dem Tisch sind Gegenstände verteilt. In der Mitte auf einem schwarzen Tuch liegt eine Glaskugel, die das Licht der Kerzen spiegelt. Ich muss schmunzeln. Des weiteren sehe ich eine Silberkette, einen Mörser und ein verziertes, hölzernes Kästchen. Die Tischdecke ist tiefblau, doch die Stühle und Wände sind mit bordeauxfarbenem Samt beschlagen. Über unseren Köpfen hängt ein Schwarzweißbild eines Mannes (Rasputin?) mit langem Bart und stechendem Blick. Anderthalb Stunden geht die Vorstellung, schnappe ich aus den Gesprächsfetzen um mich herum auf. Mir ist schleierhaft, was denn der Mann anderthalb Stunden lang mit uns an diesem Tisch machen will…?
Nach und nach trudeln weitere Gäste ein. Die Stimmung im Raum ist wie eine zähe Masse, fast mit den Händen greifbar, eine Mischung aus Warten, Erwartung und einer seltsamen Anspannung, die zugleich fast schon sedierend wirkt. Die Kerzen und die Glaskugel ziehen unsere Blicke auf sich und ab und zu entlädt sich diese eigenartige Atmosphäre in dem einen oder anderen Witz, der immer mal wieder jemand in die Runde wirft und der mit einer Salve aus Lachen dankbar angenommen wird. Doch das entlädt nicht die Spannung. Janine hat Angst.
„Was erwarten Sie sich vom heutigen Abend?“ Die Augen des Mannes kreisen von einem zum anderen. Zuvor wurden wir angehalten, unsere Mobiltelefone komplett auszuschalten, denn die Geister mögen die Schwingungen nicht. „Mögen die Geister auch keinen Flugmodus?“ Frage ich.
Mit Ausnahme einer Besucherin weiß hier niemand so recht, worauf er sich da eingelassen hat. Auftauchende Gesichter, Kettenrasseln? Ein Ektoplasma, das aus den Gesichtsöffnungen des Mediums austritt? Ich höre neben mir den lauten, stoßartigen Atem meiner Freundin, die sichtbar um Fassung rangt. „So schlimm wird es nicht werden.“ Verspricht er uns.
Wir lauschen der Geschichte des Herrn Probst, der den Schlachthof vor Jahren einmal geleitet hatte. Doch dann ereignete sich ein folgenschwerer Unfall und die Familie des Herrn Probst verstarb. Seitdem wurde der Mann immer seltsamer, bis man ihn irgendwann erhängt in einem der Räume fand. Und seitdem…
„Das hier ist der Raum, in dem man seine Präsenz am stärksten spürt. Manchmal kann ein Geist den Rand unseres Bewusstseins durchdringen und uns empfänglich für Dinge machen, die wir normalerweise nicht spüren würden, wenn sich unsere Ebene mit einer anderen Bewusstseinsebene vermischt, sind wir imstande, unseren Geist zu öffnen und uns auf Dinge einzulassen, die wir sonst nicht sehen oder spüren würden.“ Er spricht sehr schnell, lässt die Sätze ineinander verschmelzen, die hypnotische Stimme scheint sich in die Gedanken zu drängen und lässt keine eigenen zu.
Er lässt einen alten Schlüssel durch die Reihen kreisen. „Der Schlüssel stammt aus einem inzwischen abgebrannten Spukhaus und man sagt, dass sich die Geister mit aller Kraft an die Dinge heften, die noch geblieben sind. Wenn man durch die Öffnung des Schlüssels schaut, kann man einen Film erkennen, wie einen Schleier, doch das ist bei jedem unterschiedlich. Manche sehen alles wie durch eine Lupe, manche nehmen eine milchige Trübung wahr. Können Sie es sehen?“ Fast jeder kann den Schleier- oder den Lupeneffekt erkennen. „Hat irgend jemand hinein gefasst?“
„Ja, ich.“ Denn ich wollte prüfen, ob in der Öffnung des Schlüssels eine transparente Schicht angebracht ist. Doch die Öffnung ist leer. Der Mann macht ein ernstes Gesicht. „Wer hinein gefasst hat, wird innerhalb eines Jahres sterben.“ Dann entspannen sich seine Züge und er lacht. „Nur Spaß. Mach dir keine Sorgen.“ Alles gut, sage ich; ich hatte ein gutes Leben, das passt schon. Alle lachen.
Spuktheater, dritter Akt
Wir sind eine gut gemischte Gruppe, derer größten Anteil jedoch die Frauen ausmachen: drei Pärchen, dann die Mutter und Tochter, die bereits bei unserer Ankunft da saßen, Janine und ich und eine weitere Frauen-Dreiergruppe, die zusammen gekommen ist.
„Wer von Ihnen hatte schon mal Spukerfahrungen?“ Einige melden sich. Geister haben die Fähigkeit, uns empfänglich für Telepathie zu machen. Wir alle, die wir hier sitzen, haben eine Verbindung zueinander, auch wenn uns das nicht bewusst ist. Doch Moment mal, irgend etwas stimmt hier noch nicht…“ Seine Augen wandern prüfend durch die Gruppe. Dann bleiben sie auf einer der Damen hängen. „Kannst du freundlicherweise mit ihr den Platz tauschen? Ja, genau so.“ Schon ziemlich am Anfang der Sitzung wurde uns der Einfachheit halber das Du angeboten. Allgemeines Rascheln, als die angesprochenen Damen dem Wunsch Folge leisten. Anschließend werde ich angehalten, mit einer jungen Frau den Platz zu tauschen, so dass das junge Pärchen nun auch getrennt dasitzt. Mir fällt auf, dass im Endeffekt alle Besucher, die zusammen hierher kamen, auseinander gesetzt wurden. Nun wird niemand mehr abgelenkt durch den leise geflüsterten Austausch mit seinem Sitznachbarn und jeder kann hochkonzentriert dem Geschehen folgen. Ein cleverer Schachzug.
„So, jetzt passt alles.“ Seine Augen blicken zufrieden durch die Runde. „Nun wollen wir den Geist rufen, der hier in den Räumen umherwandelt, Josef Probst, komm in diesen Raum…“ Die hypnotische Stimme erhöht wieder ihre Sprechgeschwindigkeit, so dass die Anrufung wie ein Schwall in unsere Köpfe dringt. „Spüren manche von euch bereits eine Präsenz? Einen kalten Hauch, der über die Beine zieht?“ Fragt er uns. Manche nicken bejahend, ich spüre nichts. Doch dann… „Jetzt ist er da.“
Ein Klopfen ist zu hören. „Spürt ihr es?“ Der Mann nimmt den alten Ring, der zuvor zusammen mit dem Schlüssel die Runde gemacht hat, und hängt ihn an einen Faden auf. „Wir können prüfen, wie stark die Präsenz eines Geistes ist… versuchen wir es einfach.“ Nun reibt sich doch so mancher verwundert die Augen, denn über das Kerzenlicht hinweg ruckelt der Ring ganz kurz und wandert dann an dem gespannten Faden stetig nach oben. „Oh, so stark war es noch nie!“ Ruft er. Inzwischen ist es völlig still im Raum und alle Bewegungen der Anwesenden sind zum Stillstand gekommen. Unwillkürlich habe ich meinen Oberkörper so weit nach vorne gebeugt, dass ich beinahe auf den Tisch geklettert wäre. Vergeblich halte ich nach irgendwelchen Hilfsmitteln Ausschau, doch in dem spärlich eingerichteten Raum kann ich nichts verdächtiges entdecken.
Anschließend nimmt er den alten, massiven Schlüssel wieder in die Hand. „Seht jetzt ganz genau hin.“ Zunächst passiert nichts weiter. Doch dann… ich muss blinzeln, denn ich kann tatsächlich eine Bewegung erkennen. Zunächst ganz unwesentlich, so dass es gut und gerne als eine Halluzination durchgehen könnte. Doch dann wird die Bewegung immer offensichtlicher: es ertönt ein zischendes Geräusch und der Schlüssel beginnt, sich auf der flach ausgestreckten Handfläche des Mannes zu drehen. Der Mann verzieht das Gesicht und lässt den Schlüssel fallen. Als das Haus brannte, sagt er, klemmte der Schlüssel und die Außentür konnte nicht geöffnet werden. „Wisst ihr“, erklärt er uns. „In diesem Schlüssel steck immer noch der Drang, diese drehende Bewegung auszuführen.“
Spuktheater, vierter Akt
Es folgen telepathische Versuche mit Spielkarten. Doch ich bin noch immer fasziniert von der Bewegung des Schlüssels und komme nicht von dem Gedanken los. Eine der Damen wird nach vorne geholt und soll einen gut durchmischten Stapel in die Hand nehmen und blind eine Karte wählen. Eine nach der anderen legt sie die Karten verdeckt auf den Tisch, bis sie schließlich sagt: fertig.
„Warum hast du genau an dieser Stelle aufgehört?“ Wird sie gefragt. Ich weiß nicht, sagt sie; es war einfach so. „Schau hier in den verschlossenen Umschlag, den ich hier liegen habe.“ Ein roter Umschlag wird aufgerissen und eine Karte kommt zum Vorschein. Verblüffung zeichnet das Gesicht des Mädchens. Der Mann zeigt den Umschlag herum, um zu beweisen, dass nur eine einzige Spielkarte darin steckte. „Ist es die Karte, die du gezogen hast?“
„Ja.“
Eine andere Dame soll sich einen Buchstaben überlegen. Der Mann hält eine Karteikarte hinter seinem Rücken. „Und jetzt sende mir den Buchstaben, sende mir das Bild, rufe mir in Gedanken den Namen zu.“ Die Frau steht still da, ein erwartungsvolles Lächeln im Gesicht. Der Mann schreibt etwas hinter seinem Rücken auf der Karteikarte auf. „Ist es das? Ja, ich denke schon. Ich glaube, ich werde mich mal darauf festlegen.“ Er bringt die Karte nach vorne, dreht sie zu der Frau. Ihr verblüffter Gesichtsausdruck ist entwaffnend. „Ist das der Buchstabe, an den du gedacht hast?“ Sie nickt. Auf der Karte steht ein großes B.
Auch meine Freundin wird nach vorne geholt. Sie hat den alten Silberring in der Hand, bei dem sie am Anfang eine starke Ausstrahlung gespürt hatte. Vor ihr liegen vier weiße Karteikarten. „Lass dir Zeit. Versuche, nicht zu raten und versuche auch nicht, alles richtig zu machen. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Mach die Augen zu…“ Gekonnt versetzt er sie in eine leichte Trance – und uns gleich mit. „Meistens merken wir selbst nicht, wenn wir uns in einer anderen Bewusstseinsebene befinden. Die Atmung wird langsamer, wir sehen das Licht der Kerzen, der Rand unseres Blickfelds verschwimmt…“ Meine Freundin legt den Ring in die Mitte auf eine der Karten. „Warum gerade diese?“ Will er wissen. „Die Karte hier wäre doch näher am Handgelenk gewesen, oder?“ Sie zuckt mit den Schultern. „Und diese hier, die wäre doch auch bequemer zu erreichen.“ Sie deckt nacheinander alle vier Karten auf, die auf der Rückseite leer sind. Dann nimmt sie die letzte Karteikarte in die Hand, die, auf der sie intuitiv den Ring abgelegt hatte. Auf der Rückseite ist eine Schrift zu sehen, ein Satz. Sie liest ihn vor. „Du wirst den Ring auf diese Karte legen.“
Ein junges Mädchen wird hypnotisiert. Sie bleibt mit geschlossenen Augen sitzen, ihr Atem geht langsam und ihre Augen bewegen sich schnell hinter den Lidern. Währenddessen zeigt uns der Mann zwei Stapel Spielkarten. Der erste Stapel ist ein ganz normales Spielkarten-Set, während der zweite Stapel aus sogenannten Blindkarten besteht, soll heißen: nur die Rückseite der Karten ist bedruckt, die Vorderseite ist weiß.
Nun entnimmt er dem ersten Stapel eine Karte und zeigt sie der Reihe nach. Es ist die Karo 3. „Übermittelt ihr die Karte, sendet ihr in euren Gedanken den Namen. Stellt euch ganz feine, blaue Fäden vor, und mit diesen Fäden seit ihr mit ihr verbunden. Sendet ihr die Karte.“ Dann nimmt er den Stapel der Blindkarten in die Hand, öffnet ihn und zeigt dem Mädchen eine der weißen Karten. Sie nickt und schließt wieder die Augen.
Aus der Hypnose geholt, auf die Frage, welche Karte sie gesehen hat, sagt sie: „Die Karo 3.“ „Nein. Schau mal. Du hast eine komplett weiße Karte gesehen.“
Nach und nach werden weitere Gäste in die Mitte geholt. Bilder auf Tarotkarten, Zahlen, sogar ganze Wörter werden telepathisch übermittelt. Und ausnahmslos stimmen die Dinge, die der Mann in den Köpfen seiner Besucher zu lesen scheint. Die Gesichter zeigen verblüffte, heitere Resignation, es wirkt, als hätte er die Menschen mit der Hand in der Keksdose erwischt und sie schauen aus der Wäsche, als hätte er ihre geheimsten Gedanken erraten. Eine der Besucherinnen liest in einem Buch, das sie nach dem Zufallsprinzip auf einer beliebigen Seite geöffnet hat. „Übersende mir das erste Wort auf der Seite.“ Er neigt den Kopf, schaut sie an, scheint zu lauschen. „Hm, es ist ein kurzes Wort, nicht mehr als zwei Zeilen.“ Sie nickt. „Hm. Es beginnt mit einem L. Richtig?“ Wieder ein Nicken. „Läu…ter? Ist es ein T in der Mitte? Hm, nein… Hören Sie auf, dazwischen zu denken!“ Ruft er aus und dreht sich zu einer jungen Frau um, die zu seiner Linken sitzt. Wieder ein verblüfftes Gesicht. Hand in der Keksdose.
„Nein, es ist kein T, es ist ein F, habe ich Recht? Heißt das Wort: ‚Läufer‘?“ Die Frau nickt mit strahlenden Zügen und klappt das Buch zu. Sie ist die einzige Besucherin, die bereits zum zweiten Mal das Spuktheater besucht. „Irgendwann komme ich dahinter.“ Hatte sie am Anfang gesagt. Doch in diesem Moment sieht es nicht danach aus, als sei sie dem Geheimnis näher gekommen.
Spuktheater, fünfter Akt
„Wer von euch hat bereits an einer Seance teilgenommen? Gläserrücken, etwas in der Art?“ Einige Hände wandern nach oben, ausschließlich die der Frauen. Die drei Männer im Raum, stark in der Unterzahl, schauen skeptisch.
Der Mann will von mir wissen, wie es damals war, und ich erzähle ein paar Sätze aus der Zeit, als ich sechzehn Jahre alt war und Experimente in verdunkelten Zimmern zwischen Buffy – im Bann der Dämonen und anderen Teenie-Serien zu unserer Realität gehörten. „Das Glas hat sich bewegt, fandest du das unheimlich?“ Ich bin nicht schreckhaft, antworte ich.
Das war, bevor weitere Kartenversuche folgten. „Ich glaube, das ist nicht ganz das Richtige für dich.“ Sagte er da und ließ mich sitzen. Doch nun werde ich nach vorne gerufen. Die Karten liegen inzwischen gut verstaut in sauberen Stapeln irgendwo auf der Seite.
„Ich werde dich hypnotisieren. Entspann dich und lass dich darauf ein, es gibt kein Richtig oder Falsch. Du spürst deine Beine, wie sie fest auf dem Boden stehen, der Rand deiner Wahrnehmung verschwimmt und wenn ich mit dem Feuerzeug schnippe, schließt du die Augen. Jetzt.“ Ich mache meine Augen zu und versuche, mein Herz zu beruhigen. Wieder diese Mischung aus Aufgeregtheit und Sedierung. Irgendwann entspannt sich mein Atem. Ich erwarte rein gar nichts. Ich erwarte nicht, hypnotisiert zu werden (ob ich überhaupt hypnotisierbar bin? Versuche, an nichts zu denken…) noch erwarte ich, irgend etwas zu spüren. Mein linker Arm ist ausgestreckt und… „Lass dir Zeit, halte die Augen geschlossen und sage uns laut, wenn du etwas spürst.“
„Ja.“
Ich warte. Es ist still. Eine angenehme, wie in Watte eingehüllte Stille, nicht von der Art, die dich eine fallende Stecknadel hören lässt. Und dann… da ist etwas auf meinem Arm, kurz, aber eindeutig spürbar, so eindeutig, dass kein Raum mehr für Spekulationen bleibt. So eindeutig wie eine sachte Berührung, die noch eine Weile spürbar ist, nachdem sie aufgehört hat. Als wenn eine Fliege an einem heißen Sommertag über die feinen Härchen auf deiner Haut geht. Leise sage ich: „Jetzt.“
Doch der Mann bekommt das scheinbar nicht mit. „Das war nicht eindeutig, versuchen wir es noch mal.“ Wieder warte ich, und wieder landet eine Fliege sachte auf meinem Arm. Doch diesmal ist der Eindruck stärker.
„Jetzt!“
Ich öffne die Augen und schaue in äußerst verwirrte Gesichter, die mich ansehen, als käme ich nicht von dieser Welt. Ich habe das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Als ich mich setze, kann Janine ihre Augen nicht von mir lösen und diese entwaffnete Verblüffung steht ihr ins Gesicht geschrieben.
Eine andere Besucherin wird nach vorne geholt und nun kann ich mitverfolgen, was da soeben geschehen ist. Die Frau sitzt mit geschlossenen Augen auf dem Stuhl. Der Mann steht in zwei- bis drei Metern Entfernung vor ihr, wartet. Plötzlich hebt er den Arm und einen Augenblick später lässt er ihn hinunter, ganz so, als würde er genau erkennen, wann es soweit ist. In diesem Augenblick verzieht die Frau das Gesicht, zischt und reibt sich den Arm. Deshalb also die erstaunten Blicke, deshalb sahen sie mich eben alle an wie ein Alien. Ich bin überreizt, komme nicht zurande. In meinem Kopf rattert es.
Zwei weitere Frauen, die nach vorne gebeten werden, legen die Finger beider Hände sachte auf einen kleinen Holztisch. Der Mann steht in der Mitte, seine Fingerkuppen ruhen ebenfalls auf dem Blatt. Zunächst tut sich nichts, doch dann passiert plötzlich etwas. Eine Bewegung… der Tisch beginnt zu schweben. Ich recke den Hals nach vorne, kann das schmale Tischbein genau sehen. Und es steht nicht mehr auf dem Boden, sondern schwebt ungefähr fünfzehn- bis zwanzig Zentimeter darüber. Rundherum kann ich nichts erkennen, was den Effekt verursachen könnte. Wie kann… Doch nach einem kurzen Augenblick ist der Spuk vorbei und der Tisch sinkt wieder nach unten. In meinem Kopf überschlagen sich die Fragezeichen. Doch zum Nachdenken bleibt keine Zeit, denn es geht weiter. Nun soll der Geist des Josef Probst endgültig zu uns gerufen werden.
Spuktheater, sechster Akt
Die Kerzen an der Wand werden gelöscht. Nur noch die kleinen Kerzen auf dem Tisch brennen. „Wir müssen eine Atmosphäre schaffen, die es dem Geist leicht macht, zu uns zu kommen.“ Bei spärlichem Licht, welches ausschließlich die Mitte des Tisches erhellt, sitzen wir nun da und halten uns an den Händen. Dunkle Schatten lauern in den Winkeln des Raumes und strecken die Füller nach uns aus. „Einiges von dem, was jetzt geschieht, wird womöglich verstörend auf manche von euch wirken. Doch egal, was passiert – durchbricht nicht den Kreis. Egal, was kommt, ich bin da. Wir können jederzeit abbrechen, wenn es jemandem zu viel wird, keiner muss aussteigen. Josef Probst…“ Wieder erklingt eindringlich die hypnotisierende Stimme. „Josef Probst, ich rufe dich, wenn du da bist, zeige dich und gib dich zu erkennen. Josef Probst, komm in unsere Mitte, ich rufe dich.“ Ein kurzer Augenblick der Stille. Dann…
„Es ist soweit.“
Schnell wie ein Pfeil löscht er die verbliebenen Kerzen und wir sitzen in der Dunkelheit da. „Spürt ihr es? Diese starke Präsenz, die hier bei uns im Raum ist? Spürt ihr einen kalten Luftzug, der über eure Beine zieht? Das ist er. Er ist bei uns.“ Es ist still. Wir warten. ich spüre keine Präsenz. Vielleicht kommt es noch. Ich überlege mir, meine Hand anders zu positionieren, denn sie droht einzuschlafen – entscheide mich jedoch, weiter still zu halten. Dann… Ein Kreischen.
„Was ist los? Was ist passiert?“ Fragt uns der ältere Herr. „Was habt ihr gespürt?“
„Etwas hat mich berührt!“ Ruft eine Mädchenstimme zu meiner linken. „Etwas läuft hier hinten die Reihe ab!“
Dann zuckt eine zweite hörbar zusammen. „Da war etwas an meinem Hals!“ Auch die Reihe rechts bekommt von dem Spuk etwas ab. Ich höre die Stimme meiner Freundin. „Da war etwas an meinem Hals, etwas Haariges, wie ein langer Bart…“
„Josef Probst, bist du das?“ Ruft der Mann. „Josef Probst, kannst du das wiederholen…?“ Nach einem kurzen Augenblick geht wieder ein erschrockenes Schnappen durch die Reihen.
„Ich glaube, so stark war es noch nie.“ Sagt er. „Ich glaube, wir brechen jetzt ab.“ Das Klicken des Feuerzeugs, eine Flamme, deren Licht sich in den Gesichtern und den glänzenden Augen spiegelt. Die Kerzen werden eine nach der anderen wieder angezündet. Wir lassen unsere Hände los. Der ältere Herr schaut gespannt in die Runde. „Es hat aufgehört, aber er ist noch da.“ Sagt er. „Er ist noch hier bei uns im Raum.“ Er blickt von einem zum anderen. „Was habt ihr gespürt?“
Auffallend ist, dass diejenigen, die dem Mann am nächsten sind, auch das meiste wahrnahmen. Einige sprachen von einer Berührung. Von einem Luftzug. Eine Frau sagt, etwas hätte ihren Zopf hochgehoben. Meine Freundin fühlte etwas, was sich wie ein langer Bart anfühlte, in ihrem Nacken. Mein Sitz ist genau am anderen Tischende platziert, ich spürte nichts, ebenso wie die wenigen Personen links und rechts von mir, die sich, wie ich, weit weg vom Epizentrum des Magiers befinden. „Ist hier außer uns noch jemand im Raum?“ Fragt eine Besucherin.
„Nein. Hier ist außer uns niemand. Kein anderer Mensch ist außer uns noch hier, das kann ich euch versichern. Und ich hatte meine Hände die ganze Zeit auf euren Händen, oder?“ Die beiden Personen rechts und links von ihm nicken. Einige, darunter meine Freundin, sehen leicht verstört aus.
Spuktheater, siebter Akt
Die Auflösung
Die Frage geht der Reihe nach um. „Wie fühlst du dich? Wie war das für dich? Wirst du heute Nacht wieder gut schlafen können?“
Wie ich mich fühle? Ähm, gut. Werde ich heute Nacht gut schlafen? Mit Sicherheit. Bin ich mit mir selbst wieder in Reinem? Ähm… nein, ich habe Fragen. Verdammt viele sogar.
Er spricht mit jedem von uns, beantwortet unsere Fragen. Nach und nach beruhigen sich die Gemüter und eine fröhliche, entspannte Stimmung breitet sich aus. Auch meine Freundin beruhigt sich wieder. Ich hebe die Hand.
„Ja. Bitte.“
„Wie bringt man einen Tisch zum Schweben?“ Will ich wissen. Der Mann lächelt. „Sehr gut sogar.“ Antwortet er heiter. Hm.
„Noch jemand eine Frage?“ Wiederum hebe ich die Hand. „Eigentlich nur noch eine. Wer ist das denn da oben auf dem Bild?“ Er blickt auf das Foto, das die ganze Zeit über über unseren Köpfen hängt, die Abbildung des Mannes mit dem langen Bart, dem hageren Gesicht und den stechenden, starren Augen.
„Das ist Rasputin.“ Antwortet er.
Habe ich es mir doch die ganze Zeit gedacht.
Wer das Spuktheater in Karlsruhe live erleben möchte, kann hier einen Termin reservieren. Karten als solche gibt es keine, die Reservierung erfolgt telefonisch oder über E-Mail und da es keine Abendkasse gibt, wird der Eintrittspreis im Vorfeld überwiesen. Die Termine sind oft lange im Voraus ausgebucht, daher lohnt es sich, für Wochenenden rechtzeitig zu buchen.
Inspiriert zu diesem Besuch hat mich mit ihrem Beitrag Lisa-Maria von wandervögelchen.com. Hier kannst du ihre Geschichte nachlesen.