Mummelsee, Schwarzwald
Der Hitze entfliehen…
„Es war reine Notwehr.“ Sagt Stefan, als er sich gemeinsam mit mir an unseren Wochenendausflug in den Schwarzwald erinnert. Es war ein heißer, ein sehr heißer Sommer – das Wetter drehte so richtig auf und das gesamte Rhein-Main-Gebiet stöhnte unter einer unbarmherzigen 43 Grad Hitze. In meinem schattigen Garten, wo hohe Baumkronen selbst am Mittag einen tiefen Schatten warfen und sich der Blauregen, den Lianen in tropischen Regenwald ähnlich, über allem schlängelte und die Bäume mit festem Griff umgarnte, fühlte es sich nach zwei Grad weniger an – doch das reichte noch nicht. Der Schweiß perlte von der Stirn und jede Bewegung geschah im Zeitlupentempo, mit Bedacht. Selbst das Zwitschern der Vögel war nicht mehr zu hören – zu heiß, zu anstrengend.
Das dachten wir uns auch, als wir faul auf meiner Gartenbank saßen wie in einer Sauna, zu der es keinen Ruheraum gibt.
„So, das reicht.“ Sagt Stefan plötzlich und erhebt sich. „Hast du Lust, wegzufahren?“
Wegfahren, wer mich kennt, weiß, dass ich bei diesem Stichwort sofort wach bin wie ein Erdmännchen. Und so sehr ich auch die Zeit in meinen schönen Garten genieße, von einem Ausritt ins Blaue hielt mich noch nie etwas ab…
Wälder ziehen an uns vorbei, sonnige Lichtreflexe wechseln sich mit tiefem Schatten ab als wir die Schwarzwaldhochstraße entlang fahren. Es ist Anfang Juli und der Rote Fingerhut mit seinen glockenförmigen Kelchen steht am Wegesrand in voller Blüte. Fasziniert denke ich an den Fluch und den Segen, den sein Digitoxin mit sich bringt und daran, wie gut sich solche Blüten in meinem schattigen Garten machen würden (Bislang ist es mir nicht gelungen, ihn zu kultivieren; selbst eine Waldblume braucht zumindest hin und wieder mal ein wenig Sonnenlicht…). Als wir für ein Zwischenstopp an einem Aussichtspunkt anhalten und uns im Schatten an die Leitplanke lehnen, stelle ich fest, dass es selbst den Waldpflanzen zu viel wird, traurig lassen sie dort, wo ihnen die Sonne die Köpfe versengt, ihre Glieder in der flimmernden Hitze hängen.
Der Wald ist etwas Wundervolles. Wie ein Schluck Wasser im Sommer vermag er dich zu kühlen, sobald du nur einen tiefen Zug seiner „grünen“, erfrischenden Luft atmest. Es riecht nach Boden, nach Blättern, nach Schatten, nach Moos… und vermischt mit der Mittagshitze schlicht und ergreifend nach Spätsommer.
Und etwas Faszinierendes lässt sich beobachten – je tiefer wir uns in den Schwarzwald hinein bewegen, umso kühler wird es. Die Temperaturanzeige sinkt proportional und bleibt irgendwann bei circa 36 Grad stehen. Das ist zwar immer noch weit von „erfrischend kühl“ entfernt, doch in Verbindung mit dem Schatten der Bäume ein spürbarer Unterschied. Und unsere Lebensgeister kehren langsam zurück.
Was wirklich erfrischend ist, ist auf einem Stein am Ufer des tiefgrünen Sees zu sitzen und die nackten Füße ins Wasser baumeln zu lassen.
Wir sind, wie zu erwarten, nicht die einzigen, die auf diese Idee kamen; so ist der Mummelsee mit all seinen Rund- und Spazierwegen heute gut besucht. Menschen sitzen im Schatten der Sonnenschirme, ein Bierchen jagt das nächste, kleine Boote schippern bedächtig über den See. Wir positionieren uns weit weg vom Trubel, langsam steigen wir den ausgetretenen Pfad zum Ufer hinunter und setzen uns auf einen Stein, die Beine im Wasser. Sofort sinkt spürbar die Körpertemperatur. So blasse Beine, die haben diesen Sommer auch kaum etwas von der Sonne gesehen… Kleine Salamander wuseln im Wasser herum und knabbern an meinen Zehen. Zwei Meter weiter springt ein erschrockener Stefan von seinem Stein auf.
Als wir genug vom Sitzen haben, machen wir einen Spaziergang. Rund um den See führt der Weg. Blau, tiefblau wirkt das Wasser da, wo sich der Himmel spiegelt; grün, tiefgrün wie ein Smaragd im Schatten der Bäume, wo die Sonne auf die Oberfläche trifft. Die knorrigen Äste der Tanne strecken sich wie Arme einer alten Vettel dem kühlen Nass zu. Verträumt sitzt die Nixe auf ihrem Stein, das dunkle Gesicht aus Bronze der Sonne zugewandt, den Blick jedoch in die Ferne gerichtet, und lässt geduldig Scharen an Touristen, die allesamt ein Foto mit ihr wollen, über sich ergehen wie damals, als sie in weit entlegenen Zeiten des Nachts in Begleitung ihres strengen Vaters, des Mummelkönigs, dem See entstieg, um den Menschen nahe zu sein.
Farne strecken zwischen den Steinen ihre Blätter empor und ein Bächlein, tief unter der grünen Schicht versteckt, verrät sich durch ein leises Plätschern. Etwas, das an alte, verwitterte Tierhäute erinnert, aber vermutlich bloß aus Birkenrinde besteht, häng aufgespannt zwischen den Ästen der Bäume (weiß jemand, was das sein soll?) und eine Ziege, die in der Hitze des Tages scheinbar auch vorübergehend ihren Antrieb verloren hat, liegt mit geschlossenen Augen faul in ihrem Gehege. Kein Määäh, kein Laut ist zu hören – eine schläfrige, halbe Ziegenstärke.
Dunkle, schwere Wolken haben sich am Himmel gebildet und türmen sich nun über uns auf, als wir an diesem Abend zurück nach Mannheim fahren. Es sollte diesen Sommer einer der letzten, wirklich heißen Tage gewesen sein und die Schwüle würde sich dieser Nacht in einem ordentlichen Gewitter entladen.
Wir hofften es.
Die Mummelsee-Sage:
„Der Mummelsee in den dunklen Tannengründen hat seinen geheimnisvollen Namen von den Seefräulein oder Mümmlein. Sie wohnen in seiner unergründ- lichen Tiefe in einem prächtigen, kristallenen Schloss. Es ist umgeben von prachtvollen Gärten, in denen die blutrote Koralle neben der duftenden Seerose wächst. Die Mümmlein sind liebliche, reizende Gestalten von zartem, schlankem Wuchs und rosiger Schönheit. Jede Nacht steigen sie empor zu der Oberfläche des dunklen Gewässers, vollführen beim Klang der Instrumente einen lieblichen Tanz oder eilen mit der Spindel den nächsten Häusern im Tal zu.
Vor Zeiten kamen die Mümmlein oft hinunter ins Tal zu den Bauern und Holzhauern, halfen in Haus und Hof oder hüteten die Kinder, wenn die Frauen auf dem Feld zu tun hatten. Frühmorgens waren sie schon da. Sobald es aber Nacht war und die Sterne am Himmel standen, mussten sie alle wieder im kristallenen Schloss auf dem Grund des Sees sein. So war es ihnen von ihrem König befohlen worden. Eines der schönen Seefräulein gewann einen jungen Bauernsohn aus Seebach lieb. Als nun wieder Kirchweih im Tal war, kamen die Seejungfrauen herab ins Wirtshaus, wo der Tanz war. Das Mümmlein, das den Bauernsohn gern hatte, tanzte einen Tanz nach dem anderen mit seinem Liebsten. So schön wie das Mümmlein war weit und breit kein Mädchen, und keines konnte so zierlich und leicht tanzen.
Als es anfing zu dunkeln, kehrten alle Fräulein aus dem See in ihr kristallenes Schloss zurück. Nur die einen Seejungfrau, die ihren Liebsten im Dorf hatte, konnte sich nicht von ihm trennen. Nur noch einen einzigen Tanz wollte sie machen. Sie dachte, es werde da unten im Tal eben früher Nacht als droben im Wald. Aber sie tanzte noch einen Reigen und noch einen. Und die Zeit verging, und sie wusste nicht, wie.
Plötzlich schlug es auf dem Turm zehn Uhr. Nun wurde der Seejungfrau doch ihr Leichtsinn bewusst. Es wurde ihr bang ums Herz. und sie zog den Liebsten aus dem Saal ins Freie. Schweigend eilte sie mit ihm den Bergwald hinauf. Als sie an den See kamen, sprach sie mit trauriger Stimme: „Jetzt werden wir uns wohl nimmer sehen, denn ich werde sterben müssen. Warte noch eine Weile am Ufer. Steigt das Blut aus der Tiefe, so habe ich mein Leben verloren; wenn nicht, werde ich bald wieder bei dir sein.“ Sie nahm eine Weidenrute und schlug damit dreimal aufs Wasser. Da teilte es sich, und eine marmorweiße Treppe erschien, die ins kristallene Schloss hinabführte. Hinter dem Mümmlein schloss sich das Wasser wieder. Es war dunkle Nacht, und keine Welle regte sich. Da stieg eine kleine dunkle Woge aus der Tiefe des Sees empor. Es war das Blut des armen Mümmleins, das für seine Liebe sterben musste.“