Fish River Canyon, Namibia
11 September 2017
An diesem Morgen bin ich sehr früh wach – um halb fünf bereits auf den Beinen zu sein ist eine Premiere, selbst für mich – und mit das Früheste, das ich an Einsatz und Elan aufzubieten habe. Ich würde ja sagen: „Sie wacht auf im Morgengrauen“, doch draußen bleibt es lange noch stockdunkel.
Ich bin geduscht, geschminkt, meine Haare sind gewaschen und fast schon wieder trocken und nicht ein einziger früher Vogel macht draußen den Schnabel auf. Nur die nächtlichen Zikaden sind zu hören. Ungeduldig schaue ich zum schlafenden Stefan hinüber und widerstehen dem Drang, ihn „zufällig“ in die Seite zu schubsen. Ich vertreibe mir die Zeit damit, das in Doha Erlebte zu notieren. Wenn mein Liebster nicht spätestens um halb sieben wach ist, dann werde ich wohl nachhelfen müssen. Denn um sieben gibts Frühstück.
Es ist kalt morgens am Fish River Canyon. Nach dem Frühstück sind wir mit die ersten, die die Lounge verlassen. Ich trage meine warme Fleedjacke mit dem Schriftzug „Kalahari Anib Lounge“, die ich im dortigen Souvenir-Shop erstanden habe, und fühle mich bei den 16 Grad Außentemperatur keineswegs zu warm gekleidet.
Mit uns zusammen verlässt noch jemand die Lodge. Es ist ein Radfahrer, der sich, fleißig und hochmotiviert, unter unseren verständnislosen Blicken durch die morgendliche, staubige Wüste quält. Mit einem Lächeln im Gesicht lässt er uns alt aussehen, während wir ihn mit einem Kopfschütteln bedenken und im Geiste bereits mit dem Verrückt– Etikett versehen.
Wir durchqueren eine steinige Landschaft, passieren Berge aus scheinbar losem Geröll und lassen uns auf der Schotterpiste durchrütteln. Währenddessen hüllt uns der vor uns fahrende Pkw in eine weiße Staubwolke ein, die, anstatt sich zu legen, sich wie Nebel immer weiter in der Landschaft ausbreitet und unsere Sicht einschränkt. Der graue Staub bedeckt hier alles und auch die Bäume, die es vereinzelt am Wegesrand zu sehen gibt, sehen farblich kompatibel, nämlich grau-erdfarben aus. Das Gebiet um den Canyon herum ist ein Naturschutzreservat, der Einlass kostet 80 N$ Pro Person und 10 N$ pro Auto. Ein Wächter öffnet uns mit den uns schon vertrauten lasziv langsamen Bewegungen das Tor. Von da an sind es noch 10 km bis zum ersten View-Point.
Als wir dann auf einem Aussichtspunkt über dem Fish River Canyon stehen und nach unten schauen, sagen wir zunächst gar nichts. Jegliches Wort scheint überflüssig geworden angesichts der grandiosen Landschaft, die vor uns liegt, die unser bisheriges Verständnis von Größe und Weite, von Raum und Tiefe völlig aushebelt mit den Dimensionen, die sie uns darbietet. So stehen wir nur da, staunen und versuchen vergeblich, die Größenverhältnisse in unserem Kopf einzuordnen. Der Fish River Canyon ist mit 550m Tiefe und 27 km Breite nach dem Grand Canyon in den USA der drittgrößte Canyon der Welt (der aktuell weltgrößte Canyon wurde von einem chinesischem Forscherteam in der Antarktis entdeckt).
Als endlich die Sonne langsam hinter ihren Schleierwolken hervorkommt und die Bergketten in der Ferne erhellt, bewundern wir still die warmen, goldenen Lichtspiele auf den sandigen Felsen, bis in die Tiefe vom Wasser geformt. Der Fish River zieht an dieser Stelle eine Schleife – wie ein smaragdgrüner Streifen zeichnet sich das Wasser vom gelbgoldenen Fels ab. Die zaghaften Strahlen der Sonne wandern wie verirrte Geister über die kontrastreiche Felsenlandschaft. Ein schwarzer Vogel sitzt oben auf der Überdachung, wiegt sein kleines Köpfchen hin und her. Wir sagen immer noch recht wenig. Und wundern uns über Menschen, die, selbst angesichts eines solchen Anblicks, einfach nicht schweigen können.
Der befahrbare Weg führt anscheinend mehr oder weniger um die Schleife des Canyons herum und es gibt mehrere gesicherte Aussichtspunkte, von denen aus man den Fisch River Canyon gefahrlos bis in seine Tiefen hinein betrachten kann. Es gibt Sicherungsgeländer, Sitzbänke und Toiletten. Oder man stellt sich – wie wir anschließend – mit dem Auto an den Rand des Weges und läuft gleich die ungesicherte Kante entlang.
Die Abbruchkante ist mit Geröll übersehen, ansonsten aber ziemlich fest. Ich könnte ewighier oben sitzen und den goldenen Lichtspielen in den Tiefen des Canyons zusehen. Beim Steine sammeln komme ich der Kante zwar näher, doch der Boden ist fest und eine Rutschgefahr besteht nicht.
Doch als ich, wieder bei Stefan angekommen, zurückschaue bis hin zu der Stelle, auf der ich eben gestanden habe, wird mir im Nachhinein anders. Ich war ziemlich nahe am Rand – und dahinter geht es übergangslos ins Nichts.
Auf dem Rückweg in die Lodge begegnen wir wieder unserem Radfahrer von heute Morgen. Er hatte inzwischen ein gutes Stück Weg zurückgelegt und müsste innerhalb der nächsten halben Stunde den Canyon erreichen. Während wir die staubige Straße wieder hinunter fahren, arbeitet er sich in der sengenden Mittagshitze hoch, wieder breit vor sich hin grinsend, als er unsere Blicke sieht.
Und noch während Stefan und ich uns gegenseitig eifrig beteuern, dass wir uns so etwas niemals antun würden und dass man doch wohl bescheuert sein müsse, sich bei dieser Hitze auf dieser Höhe bei einer solchen Steigung so zu kasteien, keimt in mir bereits der Gedanke auf, ob ich vielleicht – aber nur vielleicht – das, was sich der Mann da vorgenommen hatte, ebenfalls schaffen könnte…