Trier, August 2017
Sie spricht mich an, während ich noch die flatternden Bänder betrachte. Die Bänder schmücken die Gartenfeldbrücke, wie ein vielfarbiger Regenbogen wehen sie im Wind und erzeugen dabei ein leises, angenehmes Rascheln in der Abendluft. Ich hebe meine Kamera ans Gesicht; ein Foto, dann noch eines, fröhlich flackern die Farben in der tiefstehenden Sonne. Eine Frau ist gerade dabei, sie wieder abzunehmen, sie läuft von Stange zu Stange und sammelt die Gebinde in einem kleinen Körbchen. Dann ist sie neben mir.
„Es bleiben immer noch Menschen stehen und schauen, dabei habe ich die Hälfte schon wieder abgemacht.“ Sagt sie.
„Was war das hier für eine Aktion?“ Frage ich, nehme dabei aber nicht die Kamera vom Gesicht – noch nicht. Sie beginnt zu erzählen.
„Es ist ein Kunstprojekt, welches Menschen aus anderen Ländern, aus anderen Kulturkreisen hier willkommen heißen soll. Dieses Projekt soll auch auf die Situation von Flüchtlingen aufmerksam machen“ Jetzt hat sie meine volle Aufmerksamkeit. Ich wende mich ihr zu.
„Die Installation hing hier schon sehr lange, zwei Monate vielleicht.“ Erzählt sie weiter. Zugegeben, ich war schon ewig nicht mehr in dieser Ecke von Trier.
„Menschen konnten Zettel beschriften und sie aufhängen. Jeder hat etwas anderes hingeschrieben, manche haben auch Freundschaftsbändchen aufgehängt.“ Ich spähe in ihr Körbchen; auf den kleinen, handgeschriebenen Zetteln stehen Dinge wie Peace und Hoffnung.
„Viele Menschen bleiben stehen und wollen wissen, worum es sich hier handelt. Es gibt auch Flüchtlinge, die mir bei der Gelegenheit ihre Geschichten erzählen.“ Die Frau hat volles, graues Haar und ein ausdrucksstarkes Gesicht. Sie spricht langsam, als hätte sie es nicht nötig, viele Worte in eine kurze Zeitspanne zu packen. Sie erzählt mir Geschichten – und während sie erzählt, lässt mich der Ausdruck in ihren Augen eine Traurigkeit vermuten, wie bei jemanden, der allen Idealismus fallen lässt, der die Welt so sieht, wie sie ist, sich aber entschließt, genau an dieser Stelle weiter zu machen.
„Machen Sie das alles ehrenamtlich? Sind Sie in einem Verein?“ Frage ich sie. „Das Projekt wurde entwickelt vom Verein Mensch mit Mensch. Wir wollten wieder Aufmerksamkeit auf die Brücke lenken, haben auch eine Genehmigung von der Stadt bekommen, hier Installationen anzubringen. Es kommt bei den Menschen gut an. Manche erzählen Geschichten aus ihrer Kindheit, wie sie damals über diese Brücke gegangen sind.
Ein Flüchtling hat mich hier angesprochen und mich gefragt, ob ich ihm helfen kann.“ Ihre Augen sind nun in die Ferne gerichtet, irgendwo auf einen Punkt hinter mir, den nur sie sehen kann. Die beiden seien aus Syrien geflohen, hätten in der Türkei geheiratet, doch die Hochzeit wird hier in Deutschland nicht anerkannt. Er hat einen Aufenthaltsstatus hier, sie in der Türkei… „Ich hoffe, dass ich ihm irgendwie helfen kann, ich kenne viele Vereine, die sich damit beschäftigen…“
Die Künstlerin malt. Ihre Bilder sind düster, behandeln Themen wie Krieg und das Leben der Menschen in Kriegsgebieten, profane Dinge wie den Alltag der Menschen dort.
„Eine Ausstellung behandelt das Thema Hochzeiten in Krisengebieten. Die Bilder bekommen viel Aufmerksamkeit, weil sie schön gemalt sind und auch die Bräute in ihren Hochzeitskleidern die Blicke auf sich ziehen.“ „Ja, das stimmt.“ Sage ich. „Das Thema Krieg ist für viele Menschen, die noch nie damit in Berührung gekommen sind, etwas sehr Abstraktes, doch mit einer Hochzeit kann sich jeder identifizieren.“
„Genau.“ Sie greift auf. „So versuche ich, die Menschen abzuholen und auf die Schicksale aufmerksam zu machen.“
Das wird ihr sicher auch gelingen, denke ich mir. Ich will noch mehr sagen, möchte aber gleichzeitig auch zuhören. Plötzlich wird es laut: Ein Hubschrauber fliegt über unseren Köpfen hinweg. Wir unterbrechen unser Gespräch, blinzelnd schaue ich nach oben in die Sonne, dem Geräusch hinterher. Dann sehe ich, dass sie dasselbe tut. Als sie mich wieder anblickt, sagt sie: „Einige Menschen reagieren so ausländerfeindlich, ich kann mir nicht erklären, woher eine solche Einstellung, woher solche Gedanken kommen können. Keinerlei Verständnis für die Situation der Menschen, dieser Mangel an Mitgefühl.“ Vielleicht ist das der Moment, in dem ich zum ersten Mal diese leise Traurigkeit in ihren Augen wahrnehme.
„Ich habe mit einer Frau gesprochen, sie hat sich so negativ geäußert: Die Flüchtlinge seien an allem schuld. Dann kamen die Jungs und haben mir beim Aufbauen geholfen, und da sagte ich zu ihr: Schauen Sie, hier sind die jungen Männer, fragen Sie sie doch selbst, dann können sie Ihnen von ihren Gründen erzählen. Doch das wollte sie dann auch nicht.“ Die Künstlerin seufzt.
„Manche Menschen wollen gar nicht überzeugt werden.“ Sage ich. „Denn dann bestünde ja die Notwendigkeit, umzudenken, sich in den anderen hinein zu versetzen. Und am Ende gäbe es nichts mehr zu meckern.“
„Ja. Ich habe es nicht geschafft, sie zu überzeugen.“ Sagt sie. „Noch nicht…“
Mir fehlen die Worte, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Sie auch nicht. Wir schweigen.
Dann erzählt sie mir vom nächsten Projekt. „Es werden Schilder auf der Brücke angebracht, ganz viele schöne Schilder. Einige kann man hier schon sehen.“ Und tatsächlich hängt bereits das eine oder andere, handbemalte Schild. „Am achten September ist die Eröffnung, wenn Sie vorbei kommen möchten.“ Ich nicke und male mir bereits aus, wo ich am achten September sein werde: Ich werde in Namibia sein, auf einem anderen Kontinent, nicht einmal ansatzweise in der Nähe von Trier.
Ich verabschiede mich. Die Frau interessiert mich, und doch habe ich sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt. Sie sagt: „Vielleicht sehen wir uns noch…“ Als ich zu meinem Auto gehe, spuckt die ungewöhnliche Frau immer noch in meinem Kopf herum. Am Wagen angekommen nehme ich Mr. Google zu Hilfe und starte die Suche. Ich finde das Projekt. Und auch die Künstlerin.
Als ich wieder an der Brücke vorbei fahre, halte ich nach ihr Ausschau, doch sie ist nicht mehr zu sehen.
Die Künstlerin, die ich traf, heißt mit Künstlernamen Annamalt. Sie malt und entwickelt Projekte, die auf die Situation von Menschen in Kriegsgebieten aufmerksam machen sollen. 2014 wurde sie mit dem Friedenspreis des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet.