Wir schleichen durch die düstere Halle, langsam und vorsichtig betreten wir einen Raum nach dem anderen. Spärliches Licht gelangt durch die geschlossenen, kleinen Fenster und die dicken Vorhänge halten die Sommerhitze Italiens fern. An den Wänden sehen wir Gebrauchsgegenstände früherer Zeiten: Möbel, Truhen, eine geöffnete Truhe. In der Truhe liegt etwas; eine menschliche Gestalt. Ich trete näher.
Um das Castello Chiaramonte zu erreichen, brauchen wir nicht weit zu fahren, denn der Ort Siculiana ist unweit von Raffadali gelegen. Siculiana ist die Stadt zu der dazugehörenden Strandpromenade Siculiana Marina, an der wir die ruhigen Tage unseres Urlaubs verbringen.
Jimmy* entdeckt die Burg, die erhaben, wie es Burgen nun mal so zueigen ist, über der restlichen Landschaft thront. Die Chiaramonte, ehemals eine der mächtigsten und einflussreichsten Familien Siziliens, kommt eigentlich aus Frankreich. Im Jahr 1060 kommt sie nach Italien, um die Insel für sich zu erobern. Ende des 14 Jahrhunderts wird das letzte Mitglied der Familie vor dem Palazo Chiaramonte in Palermo hingerichtet. Heute werden auf der Burg unter anderem Hochzeiten ausgerichtet.
Als wir oben ankommen, wird gerade eine Hochzeitsfeier arrangiert: Tische und Stühle stehen draußen, bedeckt mit steifem, weißen Stoff; die Mitarbeiter vom Catering schweben über dem Burghof hin und her. Ich werfe einen Blick auf die Landschaft, die sich in unendliche Weiten zu erstrecken scheint, bevor ich mich den alten Gemäuern zuwende.
Italienische Burgen unterscheiden sich insofern von denen in Deutschland, dass ihnen die düstere Atmosphäre weitestgehend fehlt. Zumindest von außen betrachtet. Denn auch hier entdecken wir im Inneren der Burg dunkle und seltsame Räume…
Wir streifen durch einen riesigen, prunkvollen Saal, zweifelsohne der Ort für große Bälle und Empfänge in einer längst vergangenen Zeit. Und auch hier drinnen wird alles für die große Hochzeit vorbereitet, die wir draußen auf dem Burghof bereits erahnen konnten; dies bezeugen all die fein gedeckten Tische im Raum. Der Saal funkelt in rot und gold und die Wände schmücken große, alte Spiegel. Unwillkürlich muss ich daran denken, wie viele Menschen, Damen – wie viele Gesichter sich bereits in einem solchen Spiegel betrachtet haben mochten, ehe mein Blick heute hineinwandert…
Doch die Burg hat noch andere Räume zu bieten; Räume, die, obgleich schmuckloser, dennoch interessanter sind als dieser hier…
Und so finden wir uns in den dunklen, engen Gängen innerhalb der Burggemäuer wieder. an den Wänden sehen wir Rüstungen und Waffen aller Art, und, wie schon so oft bei solchen Gelegenheiten, wundere ich mich darüber, wie klein im Vergleich zu unserer Körpergröße solch eine Rüstung ist. Wurden denn die Ritter der damaligen Zeit in alten Berichten nicht allesamt als wahre Riesen beschrieben…? Das verstärkt noch meine Vermutung, dass die Menschen von Generation zu Generation immer größer werden, sind doch viele von uns jetzt schon größer als ihre Eltern.
Die Chiaramonte
Die sehr alte Adelsfamilie der Chiaramonte war einst eine der bedeutendsten Familien auf Sizilien. Ursprünglich stammten sie aus Clermont in Frankreich und kam 1060 im Zuge der Normannischen Eroberungen Süditaliens nach Sizilien, wo sie von da an ihre Macht und Einfluss fortsetzte. Die meisten Burgen, Schlösser und Paläste wie dieses wurden von der Familie im 14 Jahrhundert errichtet. Am 1 Juni 1392 endete die Familiengeschichte mit der Hinrichtung Andrea Chiaramontes, des letzten Mitglieds des Adelsgeschlechts, auf der Piazza Marina in Palermo. Den Befehl dazu gab Martin I. von Sizilien. Grund: Andrea Chiaramonte hatte sich seinem Anspruch auf den Thron widersetzt… Wie wir sehen, waren Macht und Gloria in der damaligen Zeit untrennbar mit dem Risiko verbunden, seinen Kopf zu verlieren. Und schon schwindet der Neid auf das luxuriöse Domizil, nicht wahr?
Ein Verwaltungsraum (wir würden heute sagen: ein Büro…) mit einem alten Sekretär weckt Jimmys* Interesse und so steht er einen Moment später am besagten Sekretär und lässt sich in allen möglichen Posen für die Ewigkeit verewigen. An den Wänden hängen Porträts, deren dunkle Augen wie ein lebendiges Echo aus fernen Zeiten bis ins Hier und Jetzt hindurch zu dringen scheinen.
Wie winzig die Stühle denn sind. Wie zierlich die Möbel mit ihren geschwungenen Beinen. Ein adeliges Bett, mit weißen Vorhängen versehen, in dem seit über einem Jahrhundert niemand mehr drin lag… und schau! Eine Kinderwiege… zierlich und klein, aus Holz geschnitzt. Und die Truhen, die allesamt an der Wand stehen. Eine der Truhen ist geöffnet; neugierig trete ich heran. Da liegt doch tatsächlich etwas drin…? Etwas weißes, gekrümmtes… Ich trete noch näher – eine menschliche Gestalt, die Gestalt eines Kindes, auf ein bisschen Stroh gebetet, schaut mir mit verzerrten Gesichtszügen entgegen. Es wirkt wie aus Gips, doch was ist es? Ist es eine Puppe? Eine Mumie? …was? Und was hat das zu bedeuten?
Etwas verstört laufe ich schleunigst weiter, denn ich verstehe dieses Ding nicht. Und schaurig wirkt es allemal. Wir verlassen die dunklen Hallen, die, abgeschnitten von der lebenspendenden Sonne da draußen wie eine andere Welt auf mich wirken, wie die Unterwelt selbst.
Der Burghof. Die Catering-Ladies. Ein leichter Wind mildert den Sonnenschein, der nach all der Düsternis da drinnen unser Auge blendet und uns blinzeln lässt. Eine kleine Kapelle grenzt an die Burg. Etwas wundert mich der Gedanke, dass die Adeligen ihrer Zeit wohlweislich dafür sorgten, sich zu Feierlichkeiten wie Hochzeiten und Taufen nicht hinunter in den Ort und zum gewöhnlichen Pöbel begeben zu müssen, doch der Gedanke an sich ist einleuchtend.
Wir haben genug gesehen, nun machen uns auf den Weg hinunter nach Siculiana Marina. Draußen empfängt uns der warme Sonnenschein und unser Lieblingsstrand wartet auf uns…
* Namen geändert
Das war: Sizilien, August 2010