Barcelona, Juni 2016
Wir wandern mit unseren Rucksäcken die belebte Einkaufspassage entlang. So kommen wir irgendwann zum Markt von La Rambla, der sich auf etwa der Hälfte der Strecke befindet. Der Markt soll sehr lebhaft, schön und bunt sein, auf jeden Fall sehenswert (so sagt es zumindest unser Reiseführer) und auch ein Bekannter, der sich jedes Jahr einmal in Barcelona aufhält, hat ihn uns empfohlen.
Der Eingang zur Markthalle ist vom Weiten zu sehen; bunt und blinkend, Menschen und Händler tummeln sich hin und her. Wir folgen den vielen Besuchern durch den Eingang ins Innere der Halle. Sofort nimmt die Lautstärke um uns herum nochmal um ein Vielfaches zu (dass das überhaupt noch möglich ist…?); das Stimmengewirr schwillt an, Lachen, Rufe und Geräusche werden von den Wänden der Halle zurückgeworfen. Ja, ist ein Erlebnis: Ein Mix aus Geräuschen und Gerüchen. Denn nicht alles duftet hier nach leckerem Essen…
Gegenüber der Halle, oder besser: parallel zu ihr verlief eine Seitengasse, an der sich Bars und diverse Lokalitäten niedergelassen haben. Auch hier war die Menschenmasse sehr dicht, und in der Menge machte ich in einer der Bars eine Gruppe Männer aus, die, draußen sitzend, begonnen hatten, lauthals zu singen. Manche saßen, andere gruppierten sich um Stehtische herum.
Wir tauchen in den Markt ein, an diversen Ständen und Händlern vorbei, in das Innere der Halle. Was da nicht alles an Leckereien einem geboten wurde! Ein Stand mit Serano Schinken, der kiloweise an Haken hing, kleinere Snacks zum Mitnehmen, zum sofortigem Verzehr geeignet; frisches Obst, das lockte; Süßigkeiten, Pfannkuchen, gerollt und mit frischen Früchten garniert, und frisch gemixte, eisgekühlte Smoothies und Säfte.
Stefan sah von der Hitze und dem Trubel ziemlich abgekämpft aus, also holte ich uns beiden zwei leckere Erdbeer-Smoothies. Wir postierten uns an einer etwas geschützten Ecke der Halle zwischen zwei Obstständen und beobachteten trinkend die vorbeieilenden Menschen. Das bunte Gewirr des Marktes faszinierte mich, und die lebhafte Art der Spanier war wirklich bemerkenswert anzusehen. Die Männer an der Bar sangen immer noch und einige hielten sich an den Armen und tanzten – mitten auf de Straße. Stefan schaute gequält drein, doch mich zog diese gelebte Freude und Lust am Leben einfach magisch an. Fasziniert ging ich näher heran; die Ausgelassenheit der Tanzenden hatte etwas ansteckendes. Sie lachten und feierten, ihre Augen leuchteten, und ich lachte mit.
„Geht es um Fußball? Was gibt es denn zu feiern?“ Fragte ich einen neben mir stehenden Mann, der das Spektakel genauso amüsiert beobachtete wie ich.
„Nein, es geht um Rugby.“ Antwortete er. „Frankreich hat gewonnen, und das hier sind die Sieger.“ Er zeigte kopfschüttelnd auf die verrückte Meute und lachte. Ich lief zum Stefan zurück. „Rugby.“ Erklärte ich. „Und da vorne gibt es schon die erste Schlägerei.“ Sagte Stefan.
„Was? Wo denn?“
„Da, neben der Säule.“ Und tatsächlich, ein Mann gibt einem anderen einen kräftigen Stoß, woraufhin dieser unkoordiniert am Boden landet, den halben Tisch samt Geschirr gleich mitnehmend. Es scheppert überall, man hört Glas zersplittern. Doch sofort helfen ihm Außenstehende wieder auf die Füße und sogleich wird er von vielen Händen getröstet. Er ist jung, fast noch ein Junge, und ziemlich angetrunken. Er blick drein, als wenn er gleich weinen wolle, doch seine Kumpels scheinen ihm sagen zu wollen: alles gut. Dieselben Menschen, die gleich schlichteten, sorgten auch dafür, dass der Streit nicht eskaliert, und so blieb der Zwischenfall ohne Folgen. Doch für uns war es das Signal, um weiter zu gehen.
Wir überqueren den Markt und kommen an einem Platz an, der, umgeben von Häusern und Bäumen, eine unerwartete Ruhe bietet. Überall gibt es Sitzgelegenheiten; die Menschen sitzen im Schatten entweder auf Bänken oder gleich grüppchenweise auf dem Boden, manche dösen ausgestreckt vor sich hin. Wir setzen uns auf eine Bank und stellen die inzwischen schwer gewordenen Rucksäcke zu unseren Füßen ab. Die Sonne scheint warm auf uns hernieder und ein leichter, angenehmer Wind bringt die Stimmen vom Markt zu uns herüber.
Irgendwann überkommt mich eine ungeheure Müdigkeit; ich strecke mich auf der Bank aus, den Rucksack als Kissen unter meinem Kopf platzierend. Das Stimmengewirr vermischt sich mit allen Klängen um mich herum zu einem einzigen Summen, das immer leiser wird und schließlich im Rauschen des Windes untergeht, um von ihm fortgetragen zu werden. Ich mache die Augen zu.
Durch die engen Gassen hindurch führt uns der Weg an diversen kleinen Läden, Restaurants und Bars vorbei. In einer dieser Bars bleiben wir hängen; müde vom Laufen und in der Hoffnung auf eine kühle Erfrischung setzen wir uns hinein.
Es gibt Fingerfood und Craftbier. Diese Bezeichnung sollte wohl, wenn ich das richtig verstanden habe, hochprozentiges Bier bedeuten. Es wurde in verschiedenen Sorten angeboten: helles, dunkles, trübes, starkes, weniger starkes, und Schwarzbier.
Ich bestellte Cola. Bei dieser Hitze überließ ich es Stefan, sich durch die verschiedenen Biersorten durchzuprobieren ? zudem kam noch, dass mich alkoholische Getränke eher schläfrig machen. Stefan bestellte helles Bier; es wurde uns stylisch im Einmachglas serviert. Nachdem er probierte, sagte er zu mir: „Es schmeckt nach Holunder!“
„Was?“ Das wollte ich jetzt aber genauer wissen. Ich nippte an seinem Glas, und tatsächlich: ein feines Holunder-Aroma. Hm, sehr raffiniert.
Es waren nur wenige Gäste da. Außer uns noch ein anderes Pärchen am Tresen, das auch des Bieres wegen gekommen ist. Die Bar hatte ihre eigene Atmosphäre. Sie war stylisch, doch gleichzeitig schlicht eingerichtet, ohne überzogen oder gewollt zu wirken. Es war kein Lokal speziell für Touristen, es war eines, in welches auch Einheimische kamen.
Die Seitenstraße, in der sich das Lokal befand, war sehr ruhig. Wir beobachteten versonnen die Menschen, die draußen vorbeigingen. Eine Straßenkehrmaschine fuhr geradewegs aus einer Seitenstraße in eine Kreuzung hinein und hupte dabei wie wild, als sie sich näherte. Ein Mädchen zog einen Helm über ihr langes, dunkelbraunes Haar, stieg auf ihren Motoroller und wendete ihn geschickt mitten auf der Straße, um einem herankommendem Auto das Einparken zu ermöglichen. An einem Laternenpfahl blieb sie stehen, zog ihren Helm wieder aus, warf mir, die ich mich hinter der Scheibe versteckt glaubte, einen Blick zu und verschwand hinter der nächsten Ladentür.
Überhaupt sah man hier in Spanien sehr viele Mädels Roller fahren. In einer Stadt mit einem so dichten Menschenaufkommen und so vielen kleinen, engen Gassen war ein Roller wohl das einzig sinnvolle Verkehrsmittel, mit dem man überall hinkommen konnte. Selbst die spanische Polizei hatte den Motoroller zu ihrem Dienstfahrzeug erklärt; zumindest sah ich Polizisten sich überwiegend mit einem solchen Vehikel bewegen.
Die vielen engen, verwinkelten Gassen faszinierten mich. Ob Italien oder Spanien, ob Florenz, Venedig oder eben Barcelona, man meinte immerzu, etwas Geheimnisvolles warte hinter der nächsten Ecken auf einen. Bis ganz hoch türmten sich die Häuser links und rechts der Straßen, mit teilweise schön verzierten, jedoch bröckelnden Fenstern und Fassaden; flach und gleichförmig sahen die Balkone aus, von welchen rankende Girlanden von Grünpflanzen hinunter wuchsen, was den Effekt eines verwunschenen Ortes noch verstärkte. Die Fenster waren abgedeckt, um die Bewohner gegen Hitze zu schützen, und hinter dem einem oder anderem Stoffvorhang oder Strohmatte, die sich hier und da ahnungsvoll bewegte, sah man eine Hand oder einen Fuß, oder auch einen ganzen Menschen, der im Schatten seine Zigarette rauchte oder seine Wäsche aufhängte. Gegenstände und Spuren des täglichen Lebens.
Wir verlassen die Bar, um schon an der nächsten Ecke aufs Neue stehen zu bleiben: Im Schatten mehrerer Sonnenschirme saßen fünf oder sechs Männer draußen an einem Lokal und sangen fröhlich vor sich hin. Ob der Gesang nun der Freude oder der Alkohollaune entsprang, sei dahingestellt; es reicht wohl, zu sagen, dass die fröhliche Truppe einem zufällig vorbeilaufenden Straßenmusiker seinen Akkordeon abgeluchst hatte und nun spielte sie beschwingt und stimmte ein Lied nach dem anderen ein. Ich stand da und applaudierte, sprachlos ob so viel unbekümmerter Dreistigkeit.
Nach dem dritten Lied gingen wir weiter. Es bleibt offen, ob der Musiker sein Instrument wieder bekommen hat. Ich vertraue ganz fest darauf.
Und weiter ging es durch die kühlen Gassen, am Strom der Touristen vorbei. Die Gegend wurde zunehmend hip- bis alternativ, was sich am Aussehen der Passanten und an den vielen Kunst- und Szeneläden äußerte. Da sah man schon mal jemanden in vollem Gothic-Outfit oder ein Mädel mit bunten Haaren, Piercings und schwarzer Strapse, die sie zu ihrer legeren Kleidung trug. Das erinnerte mich ein wenig an ein Viertel in Warschau, welches meine Mutter, Stefan und ich ende Dezember letzten Jahres besuchten.
Die Wärme und der Rucksack an unseren Schultern machen uns Lust auf Eis – ein Vorwand für das nächste Päuschen. Die superliebe und supersüße Eisverkäuferin macht unsere Eiskugeln so groß, dass der Eisbecher schnell übervoll getürmt ist. Und während wir dann an einer Straßenecke saßen und eifrig unser schmelzendes Eis verschlangen, dachte ich mir; Ja, ich kann schon verstehen, dass da jemand Jahr für Jahr wiederkommt, weil es ihn einfach immer wieder hierher zieht. Die Stadt, die Menschen, all das… Ja, ich denke, ich würde auch zurückkommen wollen.
Irgendwann ist das Eis aufgegessen und wir sind müde. Was nun?
Es war ein schöner Tag. Wir entscheiden uns dafür, langsam wieder ins Hotel zu fahren. Die Metro bringt uns schnell und fast geräuschlos in unser Viertel zurück, wo wir noch ein bisschen Obst für den Abend kaufen. Der nette Gemüsehändler von nebenan packt uns alles eifrig in Plastiktüten ein, und obwohl das nicht notwendig gewesen wäre, gingen wir diesmal den Weg des geringeren Widerstandes und protestierten nicht dagegen.
Den Abend ließen wir oben auf „unserer“ Dachterrasse ausklingen. Wir hatten von hier aus einen fantastischen Ausblick über die Stadt, die langsam in die Dämmerung getaucht wurde, nur um wieder aufs Neue im Glanz von tausend Lichtern zu erstrahlen. Wir hatten uns zwar ursprünglich vorgenommen, nach Sonnenuntergang noch zur Font Magica zu laufen, doch jetzt, an diesem Abend, sprach keiner von uns mehr davon.
Die Hängematten hatten uns fest im Griff.