Venetien, Juli 2014
Doch schon am nächsten Tag besserte sich das Wetter. Teilweise war es immer noch bedeckt, doch es regnete nicht mehr und es war warm. Wir hatten einen Balkon zu unserer Verfügung; zu diesem führten zwei Ausgänge: einmal von der Küche aus und einmal vom Schlafzimmer. Im Laufe der Zeit hatten wir es uns angewöhnt, im Freien auf dem Balkon zu frühstücken.
Der Tagesablauf sah dann ungefähr so aus: Stefan, der meistens schon vor mir wach war, stiefelte in die Küche und machte Kaffee. Madame Kasia streckte sich nochmal gemütlich in den Federn aus, stand dann gaaanz gediegen auf, duschte und saß dann vor dem Spiegel. In der Zwischenzeit trug Stefan das Frühstück raus und deckte den Tisch. Dann saß er da, rauchte, checkte seinen Facebook-Account, bis Madame Kasia irgendwann ihren Kopf aus dem Schlafzimmer streckte und flötete: „Ich bin soweit, Schatz!“
Nach dem Frühstück (wenn wir gerade mal einen faulen Tag hatten und nirgends wegfahren wollten) legten wir uns manchmal noch ’ne Runde schlafen. Es war ja schließlich Urlaub, und essen, Hitze und das süße Nichtstun machen ja bekanntlich müde.
Während ich die ersten Tage also morgens vorwiegend mit meiner morgentlichen Pflege beschäftigt war, hatte Stefan in der Zwischenzeit bereits mit dem Auto die nähere Umgebung erkundet und den nächstgelegenen Supermarkt ausfindig gemacht. Wenn Madame Kasia also Glück hatte, lagen auch noch frische Brötchen auf dem Frühstückstisch.
Doch eines schönen Morgens, als ich gerade so richtig gemütlich am Schminktisch saß…
„Schatz… magst du heute Brötchen holen gehen?“
Was, ich…?
„Aber…“ setzte ich an. „Dann müsste ich ja dein Auto nehmen, und…“
„Musst du nicht.“ Stefan schaute mich gütig an. „Der Supermarkt ist nicht weit von hier entfernt, ich bin da auch schon zu Fuß hingelaufen.“
„Aber ich weiß ja gar nicht, wo der ist…? Wo soll ich den denn suchen?“
„Das ist gar nicht schwer.. Schau mal…“ Stefan nimmt mich an die Hand und führt mich ans Fenster. „Wenn du da die Straße runter gehst, die ganze Zeit ganz geradeaus, dann ist es gleich um die Ecke auf der linken Seite.“
Hm. Das war ja wirklich einfach.
„Aber…“ Setzte ich nochmal an, „bei mir dauert das noch eine ganze Weile, bis ich fertig bin. Bis dahin wirst du doch sicher Hunger haben…?“
„Kein Problem, ich hatte eben schon einen Kaffee, ich warte. Lass dir Zeit.“
Verdammt…
Es half alles nichts. Ich modellierte mich also fertig, zog Sommerkleid und -schuhe an, nahm eine Tasche mit und stöckelte die Straße entlang in die angezeigte Richtung. Vom Balkon aus konnte man die gesamte Strecke bis hin zur besagten Biegung überblicken, daher vermied ich es tunlichst, mich umzusehen – doch ich konnte mir lebhaft ausmalen, wie Stefan auf dem Balkon sitzt, eine Zigarette raucht und mir genüsslich hinterherschaut.
Der Supermarkt war voll von deutschen Touristen und auch auf solchen eingestellt. Die Artikel waren auf italienisch und deutsch ausgezeichnet und an der Theke sprachen die Mitarbeiter einen auf deutsch an, wenn sie sahen, dass man nicht weiter kam. Es gab sehr viel Auswahl. Die Brötchen waren gehaltvoll, schön fest, und von der Größe her richtige Kracher. Mit der Zeit hatten wir uns auf Olivenbrötchen eingeschossen; sehr lecker, mit frischen Oliven gebacken, ein einziges davon, und man war satt für einen halben Tag.
Irgendwann fing ich auch an, Panna Cotta zu kaufen. Für Stefan Schoko, für mich klassisch mit Karamell. Das schmeckte… sagenhaft! Ich hatte absolut kein Problem damit, morgens bis zu drei Becher davon zu essen, was mir von Stefan die schmeichelhafte Bezeichnung „mein Panna Cotta- Schweinchen“ einbrachte, während er schadenfroh nach meinen neu entstandenen Bauchröllchen griff.
Ja, die Italiener verstehen es, zu essen…
Nach einem ausgiebigen Frühstück und einem Nickerchen gingen wir runter zum Strand. Strandtasche packen, kühle Getränke mitnehmen, und dann an der Gartenanlage und dem Campingplatz vorbei – schon waren wir da.
Nachmittags war der Strand voll belegt, doch gegen Abend hatten wir ihn fast für uns alleine.
Am Strand lag Stefan vorwiegend in der Strandmuschel, während ich die meiste Zeit im Wasser plantschte und allerlei Muscheln, Steinchen und Strandgut vom sandigen Meeresgrund fischte und an unseren Platz anschleppte. Anfangs war ich besorgt und fragte mich, ob Stefan diese Marotte von mir irgendwie unmöglich und kindisch finden würde, doch irgendwann fing er auch an, mit mir zusammen, nach Muscheln zu fischen. Wir amüsierten uns wie zwei kleine Kinder. Ich griff einfach mit beiden Händen in den Meeresgrund und holte den Inhalt nach oben; und das eine oder andere Mal ließ ich kreischend wieder alles ins Wasser fallen, weil sich in meinen Händen etwas bewegte… ich hatte versehentlich einen kleinen Krebs mit herausgefischt, der sich wahrscheinlich genauso erschrocken hatte wie ich.
Von der Plantscherei ermüdet lagen wir in der Strandmuschel. Straßenverkäufer liefen immer wieder zwischen den Strandhandtüchern der Urlauber hin und her und priesen lautstark ihre Waren an: „Handtuch, billiger, billiger! Guter Preis! Guter Preis!“ Von Strandtaschen über -kleider über -Handtücher bis hin zu Schmuck hatten die alles dabei. Sobald wir aus den Augenwinkeln sahen, dass sich einer von ihnen näherte, hieß es: Alarm! Schnellstmöglich hinlegen und schlafend stellen. Mit geschlossenen Augen hören wir also, wie die Stimme immer näher kommt, bis sie ganz nah bei uns ist, fühlen, wie ein Schatten auf unsere Gesichter fällt. Die Stimme hält kurz an, der Schatten steht eine Weile still, unschlüssig, noch nicht ganz überzeugt… jetzt bloß nicht die Augen öffnen… Dann, endlich, ertönten wieder die „Billiger, billiger!“- Rufe, die sich nach und nach immer weiter von uns entfernten. Der Schatten wanderte weiter.
Haben wir uns mal nicht rechtzeitig schlafend gestellt, hieß es vor allem eins: keinen Blickkontakt herstellen. Tödlich.
Natürlich stand es uns auch frei, freundlich „nein, danke“ zu sagen, dieses wurde dann auch weitestgehend akzeptiert. Aber cirka fünfzigmal an einem Nachmittag etwas dankend abzulehnen nervte dann auch ziemlich mit der Zeit. Wir hatten aber die Strandmuschel dabei, die uns wenigstens etwas Intimsphäre und Sichtschutz bot.
Ach ja, die Strandmuschel.
Die hätte ja eigentlich ein eigenes Kapitel verdient…
Gekauft habe ich das Ding irgendwann mal für zehn Euro beim Aldi und hielt es für eine gute Idee für unseren Urlaub. War es dann auch zunächst; sie ließ sich mit einem Ruck öffnen, schützte vor Sonne und gelegentlichem Wind und bot zwischen all den anderen Badegästen und ihren Handtüchern ein wenig Intimität auf kleinster Fläche. Alles also recht schön.
Bis man sie wieder zusammenfalten musste…
Wer schon einmal so etwas hatte, weiß, wovon ich spreche. Die Strandmuschel setzt sich zusammen aus robustem Stoff, der über sehr biegsame, elastische Stahldrähte gespannt ist und mit einer speziellen Technik zusammengefaltet werden muss. Das Öffnen der Muschel ist kein Problem: man wirft sie hoch, die Drähte springen auf – fertig. Aber wehe dem, der die Zusammenfaltetechnik nicht auf Anhieb beherrscht! Die Gebrauchsanleitung – dürftig. Zu zweit haben wir das Ding festgehalten, und mal so, mal so versucht, es klein zu bekommen und irgendwie in Form zu bringen… bei der kleinsten Unachtsamkeit sprang sie wieder auf und der Spaß durfte von Neuem anfangen… Der Tag, der eigentlich so schön angefangen hatte, endete mit Flüchen, Wutausbrüchen und Grundsatzdiskussionen („Du weißt immer alles besser…!“ „Und du hörst nie auf mich…!“) Dies dauerte noch an, während wir, mit der irgendwie mühsam geschlossenen Muschel unter dem Arm, über den Campingplatz stampften und die Moskitos abwehrten, für die wir wahrscheinlich eine willkommene Abwechselung auf dem Speiseplan darstellten.
Abends saßen wir noch lange draußen auf dem Balkon und, nachdem das Rot am Himmel bereits erloschen ist und sich die Dunkelheit ausbreitete, tranken wir Wein, rauchten (Ich meine Zigarillos und Stefan… das übliche… 🙂 ) und redeten. Stefan hatte seine Spiegelreflexkamera mitgenommen und versuchte, mithilfe eines Stativs den riesengroßen Mond einzufangen. Ich genoss einfach nur die warme Nacht und die Zeit, die wir zusammen hatten.