Europa, Island

Gletscherlagune Jökulsarlon und der Diamond Beach

Dezember 2019

Auf uns wartet ein leckeres, isländisches Frühstück. Ich frage nicht, wie viele der angebotenen Wurstsorten Schaf und wie viele Pferd sind, und es ist mir ehrlich gesagt Banane. Stattdessen genieße ich die Ruhe, diese Zeit, noch ehe alles aufgestanden ist, wenn der Saal noch ganz leer gähnt und ich mir in aller Ruhe im riesigen Raum mit meinem Tablett ein kleines, verstohlenes Plätzchen suche.

Ich bin die erste, die aufgestanden ist.

 

Ein blasser Mond am Morgen…

Schon kurze Zeit später taucht die Japanerin auf. In einem Bus voller Chinesen ist sie kräftig in der Unterzahl, ebenso wie ich. Schüchtern begrüßt sie mich und setzt sich mit ihrem Tablett zwei Plätze weiter. Die Japaner und ihre sprichwörtliche Zurückhaltung. Manches stimmt nicht, was man so hört – und manches eben doch.

Es ist Heiligabend. Auf einem der Tische am Fenster ist eine ganze Schneelandschaft aufgebaut. Nachdem ich aufgegessen habe, schlendere ich dorthin und bewundere die wie aus Lebkuchen wirkenden Knusperhäuschen. Riesige, ausgestopfte Krähen schmücken die Vitrinen, neben anderem ausgestopften Getier. Solche riesigen Krähen habe ich noch nie gesehen.

Ich schlendere draußen vor dem Hotel herum. Die Raucherecke ist besetzt; unser Guide ist soeben aufgestanden. Die Kälte hält sich in Grenzen, vor allem, wenn man so gut verpackt ist wie ich. Im Südosten zeichnet sich ein heller Streifen am Himmel ab, garniert von einem blassen Mond. Ich bleibe gefesselt stehen. Die Sichel des Mondes steht aufrecht da; umhüllt von einer Wolke auf der See wirkt sie wie ein Segel und erinnert mich an das Burj Al Arab in Dubai.

Die Scheinwerfer des Busses beleuchten den Schnee, die schneebedeckten Häuser. Der Motor läuft warm. Weihnachtliche Beleuchtung erinnert mich daran, dass ich jetzt eigentlich zu Hause sein müsste. Es ist der Morgen vor Heiligabend.

In dieser Nacht fuhren die Ausflügler hinaus in die Felder, um Nordlichter zu beobachten. Ich verzichtete, teils aus Müdigkeit, teils aufgrund des bedeckten Himmels. Nachts bleibe ich lange wach liegen und schiele zum Fenster, um ja das charakteristische, grüne Leuchten nicht zu verpassen, welches ich von so vielen Aufnahmen kenne. Später erst komme ich dahinter, dass Polarlichter eine ganz unterschiedliche Intensität haben können. Was mit bloßem Auge kaum zu sehen ist, zeigt sich auf Nachtaufnahmen als ein schöner, farbiger Streif. Nun tauschen sie sich aus und der Guide zeigt mir Bilder. Anscheinend gab es Nordlichter zu sehen. Ich beiße mir in den Arsch.

Eine gefühlte Ewigkeit dauert es noch, bis wir losfahren. Und immer wieder warten wir auf Nachzügler, so auch diesmal. Unser Guide kennt seine Pappenheimer und plant immer eine halbe Stunde extra ein. „Manchen sage ich eine frühere Uhrzeit.“ Verrät er mir mit einem Augenzwinkern, als wir alleine sind. „Das funktioniert wunderbar.“ Und auch diesmal scheint er nicht gestresst – anscheinend sind wir… „…sehr gut in der Zeit.“

 

Die Gletscherlagune Jökulsarlon

Wir fahren los. Vor uns – in Silber getauchte Berge. Erstarrte Wasserfälle, die von den Felsen hängen, auf ihre Zeit wartend. Mit Moos bewachsene Lavafelder. Auf den Steinen sitzen Kobolde regungslos da und meditieren. Möchte jemand anzweifeln, dass dieses Land magisch ist? Hat man es einmal erlebt, kommt man kaum mehr davon los.

Sculi fährt sehr mutig bei vereisten Straßen und Regen. Zügig überholt er einzelne Autos und ganze Fahrzeugkolonnen. Selbst lange, breite Busse sind vor ihm nicht sicher. Unterwegs  bekommen wir wieder Infos zum Besten: wie ein wandelndes Lexikon spult der Guide alles Wissenswerte zu unserer näheren Umgebung ab. Doch die Fahrt dauert dieses Mal nicht lange und schon kurze Zeit später bleiben wir stehen. Die Meute ergießt sich aus dem Bus. Was zum Kuckuck ist jetzt schon wieder los, denke ich irritiert, habe ich mich doch gerade erst im Bus aufgewärmt. Kalte Luft erfrischt mich und macht mich endgültig wach. Draußen dämmert es bereits. Ich ziehe meine Spikes an und laufe über das verschneite Feld, über den Parkplatz und über die Straße, in einigem Abstand den anderen nach, die anscheinend genau wissen, wohin es geht.

Und mit jedem Schritt eröffnet sich mir Stück für Stück ein Anblick, der mich zunächst bloß stutzen lässt. Doch je näher ich komme, umso mehr versetzt mich in Erstaunen, was ich da sehe, um mir schließlich den Atem zu rauben. Zarte Farben. Blaues Eis. Kalt und schön. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Je heller es wird, umso deutlicher tritt die unwirkliche Szenerie zutage. Es ist kein Traum. Ich stehe an der Gletscherlagune Jökulsarlon.

Jökulsarlon ist der größte und tiefste See in Island. Die auf ihm treibenden Eisberge können bis zu 15 Metern höhe erreichen. Das war nicht immer so: noch im Jahr 1975 hatte der See gerade mal 7,9 km², wuchs aber seitdem stetig an. Was nicht zuletzt mit dem Abschmelzen des Gletschers zu tun hatte. Vermutlich ist dieser Vorgang noch nicht abgeschlossen.

Die unterschiedliche Färbung der Eisbrocken rührt von der Vulkanasche her, die das Eis dunkel färbt. Älteres Eis leuchtet tiefblau. Die schwarze Vulkanasche stammt vom Vatnajökull, der bei seinen Ausbrüchen den Gletscher mit dunklen Schichten bedeckt. Bei wechselnder Strömung kann es passieren, dass Wasser aus dem Meer in den Lagunensee gelangt. So wie jetzt. Das verhindert das Zufrieren der Wasserfläche, selbst bei Minustemperaturen. Wechselt die Strömung wieder meerabwärts, nimmt sie Eisstücke mit, die sich am Diamond Beach ablagern. Dort wollen wir später noch hin.

Ich habe ein Eisblock erlegt

Fun Fact: bis zum Jahr 2017 war der See und das umgebende Land im Privatbesitz; es gehörte zu einem benachbarten Hof. Erst da, als das Eigentum zum Verkauf stand, wurde es vom isländischen Staat erworben und unter Naturschutz gestellt.

Bereits einige Blockbuster wurden auf der Gletscherlagune gedreht: Tomb Rider, Batman Begins sowie zwei James Bonds. Für „Stirb an einem anderen Tag“ wurde sogar der Zugang zum Meer verschlossen, um die Strömung für kurze Zeit auszusetzen und Fahrzeugen das Fahren auf dem Wasser zu ermöglichen.

Während alle anderen schnellen Schrittes auf die Lagune zugehen, halte ich mich etwas abseits. Wie bei allen großen, schönen Dingen will ich sie nicht sofort; vor lauter Ehrfurcht lasse ich ein paar Augenblicke verstreichen. Zu meiner linken Hand ist in der Weite eine Brücke und die schillernde Bucht zu sehen, glitzernd das Wasser und golden das Eis. Dort, wo die großen und kleinen Stücke abdriften, um sich am Diamond Beach abzusetzen. Die Brücke der Ringstraße überspannt den Fluss, während die Sonne langsam aufgeht und es Tag wird. Ich sehe mich um. Gelbe, dörre Gräser, heller Streifen am Horizont, unendlich viel Weite. Blaue Stunde, kalter, leichter Wind. Jetzt kann ich zur Lagune gehen.

Je heller es wird, umso unglaublicher der Anblick. Das blaue Eis treibt still, scheinbar völlig bewegungslos auf dem Wasser. Große Brocken, kleine Brocken, ein tiefes Blau. Wie ein Gemälde, vor dem man steht – man will hinein, wähnt sich mitten drin und ist doch außen vor. Ich muss mich kneifen, um zu spüren, dass das echt ist. Eine der schönsten Eislagunen.

Schließlich geselle ich mich zu den anderen. Eine Reisende macht ein paar schöne Bilder: Kasia vor der eisigen Kulisse. Im Nachhinein wirkt es, als hätte mich jemand in diese Szenerie hinein gephotoshoppt, und genauso fühle ich mich auch. Ein Stück traumhafter Wirklichkeit.

Anscheinend gäbe es auch die Möglichkeit, mit einem Kanu auf dem See zu paddeln, die Eisberge aus der Nähe sehen. Doch eine orangenrot umrandete Hinweistafel vergällt schnell die Lust darauf. Eisbrocken können sich lösen und ins Wasser stürzen. Ein zum Kentern gebrachtes Kanu gleicht einem Todesurteil, denn in diesem Wasser überlebt ein Mensch nur wenige Minuten (nicht alles glauben, was ihr auf Social Media sieht…).

Ich wandere mit den anderen einen Hügel hinauf. Hier sehe ich den See von oben. Ein Rundumblick, blaue Töne vermischen sich mit Rosa und Pastell. Und alles steht still. Als die anderen schon zum Bus laufen, bleibe ich noch stehen, überziehe die Zeit. Egal. Wohin man schaut, alles hier macht dich sprachlos. Das ist Island.

 

Diamond Beach

An der Gletscherlagune habe ich nicht nur Augen für die blauen, still auf dem Wasser treibenden Eisblöcke. Mein Blick gleitet in die andere Richtung, zu der befahrenen Brücke und der flammend und rauchig aufgehenden Sonne. Mit dem Bewundern dieses Sonnenaufgangs kann ich mir Zeit lassen, die Sonne geht hier ewig auf. Und ewig unter.

Dorthin, wo noch eben mein Blick wanderte, fahren wir nun. Der Bus schaukelt vor sich hin und in der Dunkelheit gibt uns der Guide zusätzliche Infos. Er selbst passt in die Szenerie: mit seinen flammend roten Haaren und dem roten Bart könnte er genauso gut Schwert schwingend auf irgend einem Drachenboot stehen.

Ich weiß nicht wirklich, was der nächste Punkt auf dem Programm ist. Ich war noch nie so der Programmpunkteleser. Ich weiß nur, dass der lavaschwarze Sand unter meinen Füßen gefroren ist. Wir haben den Bus verlassen und bewegen uns nun zu Fuß zum Ufer des Gewässers, das aus der Gletscherschmelze entsteht und gen Meer fließt. Die vom Vatnajökull Gletscher gelösten Eisblöcke treiben hierher und setzen sich schön und glänzend am pulverschwarzen Strand. Im Sommer sind sie geschmolzen und klein, doch jetzt mitten im Winter sind sie riesig. Langsam löse ich den Blick von meinen Füßen, wo rundgeschliffene Kieselsteine in einer harten Eisschicht stecken. Im Eis sind festgefrorene Fußspuren vorheriger Besucher zu sehen, und alles ist mit einer puderzuckerweißen Schicht Raureif bedeckt. So geht es bis zum Horizont. Am Horizont sehe ich Wasser, umherwandernde Menschen (unsere Gruppe hat sich längst aufgelöst und ist nach vorne geprescht) und den feurigen Himmel. Dann so etwas wie Eis. Das will ich mir genauer ansehen.

Je näher ich komme, umso unwirklicher wird der Anblick. Von weitem entpuppen sich die unscheinbaren Eisstücke als richtig große Brocken, hinter denen man sich aufrecht stehend verstecken kann. Hier sammelt sich das Eis und hier verbleibt es, bis es schmilzt und sich als Süßwasser mit dem Ozean vereint. Das Eis hat fantasievolle Formen angenommen. Vor mir erheben sich Schlösser, Drachen und Fantasiegestalten. Manchmal sind sie einfach nur moderne Kunst. Und die Farben. Am häufigsten trifft man auf weißes Eis. Es ist auch das jüngste. Das weiße Eis glänzt auf dem tiefschwarzen Untergrund des Lavastrandes wie glatt geschliffenes Bergkristall. Vielleicht auch wie Diamanten. Ich habe zu wenige davon in meinem Leben gesehen, um das zweifelsfrei festzustellen. Ich weiß nur, dass sich „Diamond Beach“ um Welten besser anhört als „Bergkristall Beach“. Und diese Eisstücke machen optisch schon was her.

 

Doch da ist noch mehr. Noch mehr Farbschattierungen sind zu sehen. Schwarzes Eis, das sich mit Vulkanasche vermischt hat. Tiefblaues Eis, wie eine tropische Lagune. Dieser riesige, vermutlich alter Eisblock zieht mich an wie eine Motte das Licht. Wie ich schöne Dinge mag. Auch wenn sie irgendwann schmelzen. Ich verliere mich in dieser eiskalten Märchenwelt. Den anderen ergeht es nicht anders. Der Guide kennt schon seine Pappenheimer und so haben wir ausreichend Zeit, um sich fotografisch auszutoben. In seiner weisen Voraussicht brachte er uns pünktlich zum Sonnenaufgang hierher. Das warme Leuchten des Himmels umgarnt die bläulichen Eisgebilde. Das Licht bricht sich in den transparenten Strukturen. An manchen Stellen sind schwarze Einschlüsse im Eis zu sehen. Woanders haben sich runde Fenster im Eis gebildet.

Dreht man den Kopf ein Stück weit nach links oder nach rechts, dort, wo die verschneiten Berge beginnen, so weicht das Orange einem sanften Perlmuttrosa. Dieses Rosa korrespondiert mit schwarzweiß schraffierten Gebirgsketten. Wie mit einem Graphitstift gezeichnet wirkt die Landschaft hinter mir. Und vor mir wie aus Disney. An all dem vorbei fließt friedlich ungerührt das eiskalte Wasser und weit vor uns tauchen aus milchigen Wolken langsam weitere langgezogenen Gebirge auf. Wir haben Glück und haben just in diesem Augenblick, für diesen langen, kurzen Moment einen klaren Himmel erwischt.

Dann lösen wir uns und fahren weiter. Die Steppe trägt das sandige Beige eines Kamelfelles, hier gibt es nichts grünes mehr. Das fahle Gras knirscht sicher unter den Schuhen. Wie auch die gefrorenen Wasserpfützen. Vorne im Bus zu sitzen ist, als hätte man einen Panoramafernseher. So viel Weite. Das Land erstreckt sich unberührt vor uns. Man kann hier im Inland manchmal tagelang wandern, ohne einen Menschen zu sehen. Ja, ich glaube es. Und sehe mich hier wandern. Tagelang. Diese Wahnsinnslandschaft, von der ich nicht die Augen abwenden kann. Für die Locals ist es vermutlich einfach nur Island. Dieses raue, harte, schöne, unnahbare. Nichts hier ist gemütlich, nichts lädt dazu ein, länger draußen zu verweilen. Nicht zu dieser Jahreszeit. Auch die Polarlichter waren für unseren Guide nichts Besonderes, bis… ja. Bis die ersten Touristen sich auf diesen Anblick stürzten wie jener Wikinger auf das Silber… ach, diese Geschichte erzähle ich euch auch noch irgendwann. Erst dann begann er, sich zu fragen – der Guide, nicht der Wikinger (obwohl, besteht da wirklich so viel Unterschied?) -, was denn da so speziell an diesem graugrün sein mag, das die Ausländer begeistert. Nun ist er ebenso begeistert. Von Nordlichtern und von seiner rauen, abweisenden Heimat.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

Für dich vielleicht ebenfalls interessant …

6 Kommentare

  1. Diese Eislagune ist ja wirklich der Hammer. Ein morgendlicher Traum in Blau und Rosa. Aber auch die Eisbrocken auf dem Video sind richtig toll. Ist notiert, dass man diese Orte am besten im Morgenlicht besucht 😎. Die Polarlichter hast du dieses Mal verpasst. Doch zwischendurch mal seine Ruhe zu haben ist ja auch nicht zu verachten. Next time!

    1. Also, was die Polarlichter betrifft, ähm, die Island-Saga ist ja noch nicht auserzählt…
      Die Lagune ist ein Traum. Es gibt noch kleinere und weniger bekannte Lagunen um den Gletscher herum, habe ich später erfahren, aber diese hier soll die schönste sein. Morgenlicht: die Guides wussten schon, warum sie uns als erstes dorthin gekarrt haben 🙂 Allerdings ist es auf Island im Winter nicht schwer um das Morgenlicht, die Blaue Stunde zieht sich bis um elf oder so. Das würde sogar für die liebe Elke klar gehen mit dem Aufstehen 😉

  2. Unglaublich schön und beeindruckend!
    LG Andrea

    1. Es ist eine traumhafte Landschaft. Wäre doch was für dein Aquarell?

  3. Sinnlosreisen sagt:

    Sehr beeindruckend, aber für meinen Geschmack schreit dort alles „Kalt, geh nicht da hin!“ Umso schöner, dass du berichtest, dann muss ich selber nicht hin.

    1. Es ist tatsächlich kalt dort, aber der Anblick lässt dich die Kälte schnell vergessen 😉

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.