Ein wenig Touristik bekomme ich dann doch. Und das aus einer reinen Eingebung heraus. Der Zufall will, dass mir ein braunes Schild ins Auge fällt, das auf ein typisch gagausisches Restaurant hinweist. Ich wende mein Auto postwendend und folge dem angezeigten Pfad. Nichts wie hin. Vielleicht war mein weiter Weg hierher nicht völlig umsonst.
Im nächsten Dorf namens Congaz stehe ich recht unerwartet vor einem großen, zugeparktem Hof. Das Restaurant scheint voll zu sein. Ein großes, längliches Haus mit einem Reetgedecktem Dach, einem überdachten Außenbereich, blühenden Geranien, Tischen und Stühlen lädt ein, um draußen Platz zu nehmen. Auf einem hohen Mast vor der Einfahrt nisten Störche.
Drinnen im Lokal scheint einiges los zu sein. Ich betrete die folkloristisch ausgestalteten Räume. Viel Holz, Gesticktes, bunte Blumenmuster in kräftigen Farben und ein ziegelsteinerner Ofen, der vermutlich nicht mehr im Gebrauch ist. Zur Dekoration liegt dennoch ein Leib Brot im geflochtenen Körbchen auf den Ziegeln. Eine der Wände schmückt ein Gemälde, das die moldawische Landschaft darstellt. Die Farben wurden direkt auf dem weißen Wandputz angebracht. Die anderen Wände sind mit Gefäßen und gebundenen, trockenen Gewürzen dekoriert.
In der Mitte des Raumes sehe ich drei auf dem geblümten Teppich drei kniende Personen, einen Mann und zwei Frauen. Alle tragen sie gagausische Trachten. Beim Mann besteht diese aus einer schwarzen Hose, einem weißen Hemd und schwarzer, mit einem floralem Muster umrandete Weste. Eine schwarze Kopfbedeckung vollendet die Kleidung. Bei Frauen beschränkt sich die Tracht auf geblümte Kleider, weiße Schürzen und weiße Kopftücher. Letztere sind auch notwendig, da alle drei gerade dabei sind, Teig zu bearbeiten. Vor ihnen stehen niedrige, mit einer Schicht Mehl bedeckte Tische. Die ältere Frau bringt jeweils einen kleinen Klumpen Teig auf der Tischplatte aus. Der Teig wird gewalzt und bearbeitet, all dies unter dem aufmerksamen Summen diverser Kameralinsen. Es scheint sich hierbei um eine touristische Führung zu handeln, in die ich gerade unvermutet hineingeraten bin.
Gut für mich. Ich packe die Gelegenheit beim Schopf, stelle mich zu den anderen und mache die eine oder andere Aufnahme. Das Haus macht auf mich stark den Eindruck eines Freilichtmuseums, doch mehr „gagausisch“ als das bekomme ich heute nicht mehr, das ist mir klar. Und irgendwann wird es auch Zeit, wieder zurück nach Milestii Mici zu fahren, wo ich den letzten Abend vor meiner Abreise verbringen werde.
Dann sitze ich an einen der Tische und versuche, die Mitarbeitenden auf mich aufmerksam zu machen. Die touristische Gruppe hatte sich nach und nach ausgedünnt, die Vorstellung war vorbei. Unzählige kleine und große Fliegen haben sich um meinen Tisch herum versammelt und kreisen nun um meinem Kopf, also setze ich mich nach draußen auf eine der mit bunt bemustertem, rotem Stoff ausgelegten Holzbänke, die unter sich windenden Weinranken stehen. Ich merke, wie der Hunger in der Magengegend zwickt – das Frühstück ist bereits Stunden her. Da der Ethnokomplex zugleich ein Restaurant ist, hoffe ich auf etwas Landestypisches. Und werde nicht enttäuscht. Ein Blick in die Karte offeriert allerlei Leckeres.
Ein schwarzbrauner Vierbeiner hat sich bereits strategisch günstig neben mir positioniert. Die Katze seht es wohl kommen, dass ich meine „Alles in allem“-Platte mit gegrilltem Gemüse mit ihm teilen werde. Ich sehe es anders. Und während ich meine Platte verputze und ein paar nette, englische Worte mit der Bedienung wechsle, sieht mich mein flauschiger Sitznachbar aus zusammengekniffenen, bernsteinfarbenen Augen missmutig an.
Nach dem Essen mache ich einen Spaziergang ums Gelände. Das „Gagauz Sorfasi“ beinhaltet nicht nur ein Restaurant. Rund um den grünen, mittig angelegten Garten, in dem eine Fontäne plätschert und ein kleiner Teich für Abkühlung sorgt, erstrecken sich längliche, weißwändige Hallen, die wohl für Hochzeitsfeiern oder ähnliches vorgesehen sind. Dahinter das Design-Hotel – ja, hier kann man auch übernachten. Ein kleines Museum ist vorhanden, doch leider abgeschlossen. Ich könnte mir einen Schlüssel aushändigen lassen, informiert mich eine andere Besucherin. Stattdessen begnüge ich mich damit, mir die draußen ausgelegten Gegenstände anzuschauen. Es sind Bücher, alte Fotografien, Holzfigürchen und allerlei Krams. Genauso sieht der Garten aus. Hier findet sich für alles ein Platz; für den alten Wasserbrunnen, auf dem noch ein Eimer steht. Für den alten, bunt bemalten Holzwagen, der früher von Pferden gezogen wurde. In den Brunnen fallen immer wieder Bienen hinein, welche die Blumenreihen umkreisen. Fürs Karma rette ich eine oder zwei aus dem Wasser. Doch dann muss ich weiter, Karma hin oder her. Ich kann nicht alle retten, seufze ich.
Der Kia Picanto bringt mich zurück, vorbei an der goldenen Landschaft, an den vielen, blassblauen Teichen, an den blassgrünen und blassgelben Felder, an den sanften Wellen der Landschaft. Moldawien scheint immer sanft zu sein, nie übertrieben, immer schön und ein wenig nostalgisch, immer leicht sepia. So will ich das Land in Erinnerung behalten. Wie eine alte, leicht ausgeblichene Farbfotografie, die warme Gefühle weckt.
Milestii Mici, am darauffolgenden Morgen
Mein Vermieter schien gestern besorgt darüber, dass ich so lange gebraucht habe. Am späten Nachmittag/frühen Abend kam ich erst von meiner Besichtigung Gagausiens. Das Gartenhäuschen vom letzten Mal ist bereits belegt, sagt er, doch ein großes Zimmer im Haus könne er mir anbieten, sagt er. Fantastisch, sage ich. Doch es ist nicht so, als wenn wir uns wirklich unterhalten. Einmal mehr kommt die Übersetzer-App zum Einsatz.
Der Raum, welchen ich diesmal zur Verfügung gestellt bekomme, muss früher das Schlafzimmer des Paares gewesen sein. Ein hölzernes Doppelbett nimmt die Mitte des Raumes ein. An den Wänden sind folkloristische Muster zu sehen, und fast jedes gepolsterte Möbelstück, vom Bett hin bis zur Couch, ist mit weißen, bestickten Stoffbezügen abgedeckt. Ich springe sofort unter die Dusche. Draußen höre ich es an die Türe klopfen.
Der Vermieter ist offensichtlich besorgt darüber, dass ich nichts essen möchte. Etwas lustlos sitze ich im Garten und verweigere das Abendessen, das mir seine Frau vorbereiten will. Ich komme bereits vom Essen, erkläre ich. Das stimmt, doch in Wahrheit bin ich einfach nur müde. Also bringt er mir ein Glaskännchen mit selbstgemachtem Kompott. Mit einem letzten, sorgenvollen Blick lässt er mich dann alleine.
Am nächsten Morgen bin ich, wie gewohnt, früh wach. Das ukrainische Pärchen, welches nun in „meinem“ Gartenhäuschen wohnt, wuselt im Garten herum. Von draußen höre ich einen Hahn krähen, und der Vermieter steht mit der Schürze in der Gartenküche. Es brutzelt und zischt. Das Frühstück ist einmal mehr reichhaltig, es gibt Würstchen, Paprika und Spiegeleier. Doch das Wichtigste für mich ist der Kaffee.
Nach der Verabschiedung mache ich mich auf den Weg zum Flughafen. Irgendwie ist mir dieses Moldawien bereits heimisch geworden, und trotz der sprachlichen Defizite fühlte ich mich pudelwohl. Es bleibt dieses nagende Gefühl in mir, dass ich zu wenig Zeit hatte, zu wenig gesehen habe. Wer hatte nochmal gesagt, drei Tage würden vollkommen reichen? Unsinn. Es gibt wahrlich nicht viele Länder, die ich ein zweites Mal besuchen möchte – die Welt ist so groß und vielfältig, es gibt so viel Neues -, doch die Republik Moldau gehört dazu.
Am Flughafen läuft alles wie am Schnürchen. Der Mitarbeiter meiner Autovermietung wartet bereits vor dem Flughafengelände auf mich. Und ich? Unerwarteter Weise fühle ich mich so glücklich, endlich mit jemandem in einer Sprache sprechen zu können, die wir beide verstehen, dass ich den armen Mann in den ersten Minuten überschwänglich zutexte. Eines habe ich noch kennen gelernt hier in der postsowjetischen Republik, und das ist die Einsamkeit. Ich denke jetzt darüber nach, während ich in der Flughafenhalle sitze – Terminals gibt es hier keine – und einer der Spürhunde, der vom Sicherheitspersonal geführt wird, wie beiläufig die Schnauze in meine Tasche steckt. Der Hund geht zügig weiter. Bei mir gibt es nichts zu holen.
Einsamkeit. Ein Thema, das von Alleinreisenden verdrängt – und schon gar nicht öffentlich angesprochen – wird. Das mit dem alleine reisen, denke ich mir, ist schön und gut. Ja, man erlebt alles intensiver. Ja, man kann sich auf eine neue Umgebung ganz anders einstellen. Ja, man lernt Menschen kennen. Wird stärker, reifer. Doch ich habe all das schon hinter mir. In den letzten zehn Jahren bin ich immerzu auf eigene Faust losgezogen, wenn sich kein interessierter Mitreisender für mein gewünschtes Reiseziel gefunden hat. Und das werde ich weiterhin tun. Doch in der Zwischenzeit hat sich etwas verändert. Ich muss keinem mehr etwas beweisen, vor allem mir selbst nicht. Ich weiß, dass ich es kann. Sich irgendwo auf dieser Welt in ein Restaurant zu setzen verursacht mir keine Probleme. In das Gewühl einer Stadt einzutauchen ist „normal“ geworden.
Die Pandemie und der dazugehörende Lockdown haben mich etwas gelehrt. Sie haben mich gelehrt, wie wichtig die Kontakte mit lieben Menschen sind. Wie schnell sie enden können. Wenn es auch mit unseren Mitmenschen selten unkompliziert zugeht, so ist „mit jemandem sein“ dem Alleinsein immer vorzuziehen. Inzwischen werden die Soloreisen immer weniger, und ich als Vielreisende wurde zu einer begehrten Reisepartnerin. Also teile ich mir meine freien Tage auf. Da wäre der neuerdings zur Tradition gewordene Urlaub mit Mama, die ich endlich auch mit dem Bazillus Travellistus angesteckt habe. Dann die traditionellen, jährlichen Reisen mit Onkel, Kids und Tomek, die mit der legendären Georgien-Rundreise begannen. Dann natürlich eine Reise mit Stefan. Vielleicht noch eine mit einer Freundin. Und schließlich ein Trip für mich alleine, der mich meist zu ausgefallenen Zielen führt, für die meine potentiellen Reisepartner in der Regel kein Interesse aufzubringen vermögen. Damit wäre das Jahr dann rum, und ein neues Reisejahr kann beginnen.
Ich habe eine längere Wartezeit. Der Wachhund taucht nicht mehr auf. Dafür hat eine ältere, russischsprachige Dame jede Menge Fragen an mich. Fragen, die ich nicht imstande bin, zu beantworten. Enttäuscht, dass ich ihrer Sprache nicht mächtig bin, wendet sie sich den Gesprächspartnern zu ihrer Rechten zu. Und ich denke einmal mehr über die Einsamkeit nach.
Alter schützt vor Geselligkeit nicht 😎.
Das stimmt wohl 🙂
Ah, da hast du ja doch noch eine Portion Touristisches geboten bekommen. Beruhigend auch, dass du was für dein Karma getan hast. Kann nie schaden 😁. Interessant, was du am Ende des Beitrags zum Thema Einsamkeit auf Soloreisen schreibst. Mir ging es auf meinen vielen Soloreisen bisher nie so, dass ich mich einsam gefühlt hätte. Es war allerdings fast immer möglich, mich ausreichend auf Englisch zu verständigen. Ich habe darüber hinaus auch oft kein Bedürfnis, Erlebnisse oder Gedanken direkt und unmittelbar teilen zu wollen. Dafür reicht mir dann tatsächlich eine Notiz für die folgenden Blogbeiträge. So sind wir eben alle unterschiedlich. Gott sei Dank! Das Wichtigste dabei ist ja, sich selbst gut einschätzen zu können und dann entsprechend zu handeln, sprich zu reisen.
Das, was du über dich sagst, dachte ich sehr lange über mich auch. Wenn das eigene Mitteilungsbedürfnis befriedigt ist, empfinden wir das vielleicht nicht so. Als ich mich plötzlich niemandem mehr mitteilen konnte, war ich über mich selbst überrascht, dass mich das störte. Vielleicht hat es sich auch mit der Zeit entwickelt, dass ich langsam zu einem geselligen (?! Gott bewahre…) Menschen mutiere. Es muss das Alter sein…