Meine Schritte führen mich zum Stadtzentrum, vorbei an Essensständen, Kebab-Lokalen, Wohnhäusern und dem Denkmal, das für die gefallenen Sorocaner, die im Sowjetisch-Afghanischen Krieg ihr Leben ließen, errichtet wurde. Wie, ihr wusstet nicht, dass Moldawien in den Afghanistankrieg involviert war? Nun, genauer gesagt war es nicht direkt Moldawien, sondern die UDSSR. Und es war nicht jüngst vor zwanzig Jahren; die sowjetische Besatzung von Afghanistan dauerte von 1979 bis 1989. Feindliche Einflussnahme, gewaltsamer Machtwechsel, volles Programm. All das, um sein Quäntchen Einfluss in der Region zu erhalten. Kommt uns bekannt vor, oder?
Aber macht euch nichts draus, bis eben (Recherche zwecks Blogartikel…) wusste ich von den Verwicklungen auch nichts. Ich steige in den Schatten eines Baumes – an schattigen, grünen Plätzen mangelt es hier nicht -, stelle mich auf Zehenspitzen für den optimalen Winkel. Einen Augenblick später habe ich das Foto schon im Kasten. Wer Interesse hat und Zeit, kann sich in Soroca das Museum für Geschichte und Ethnographie anschauen.
Das Festival Argintie Fanfara
Weiter geht es nach links, in einer Seitenstraße, die sich zu einem großen Platz weitet. Riesenrad, Fahrgeschäfte und vereinzelt Familien mit kleinen und größeren Kindern. Viel ist hier nicht los, doch die Fahrgeschäfte fahren und die wenigen Kinder, die da sind, sind begeistert. Ich mache mein obligatorisches Foto. Für eine Kirmes kann ich mich momentan irgendwie nicht erwärmen, vor allem nicht, wenn diese so ausgestorben wirkt wie diese hier.
Mich zieht es dahin, wo mehr Menschen sind. Zwei junge, uniformierte Polizisten haben soeben den Verkehr für Fußgänger angehalten; schnell schlüpfe ich auf die andere Straßenseite. Ich finde mich in einem Park wieder, in dessen Zentrum eine Wasserfontäne plätschert und der von Verkaufsständen durchzogen ist. Ich finde mich inmitten eines Festivals der Blasmusik wieder: dem Argintie Fanfara, das zusammen mit der Messe „Produs de Soroca“ alljährlich am zweiten Juni stattfindet. Die Veranstaltung wurde von der Kulturabteilung des Bezirksrats der Stadt ins Leben gerufen mit dem Ziel, das immaterielle Kulturerbe zu erhalten. Die Argintie Fanfara ist ein Musikwettbewerb, bei dem dreizehn Orchester aus verschiedenen Bezirken des Landes traditionelle Volkslieder neu interpretieren.
Hier pulsiert das Leben, Menschen gehen hin und her, sitzen auf Bänken, stöbern in Büchern, Fressalien, Kleidungsstücken und ausgestelltem Handwerk. Ich schaue mich zwischen den Fressalien um. Gebäck, Frittiertes und Gegrilltes, dazu allerlei Gemüse und mir teilweise bekanntes, teilweise unbekanntes Obst. Kleine, geröstete Vögelein, die kein Hühnchen sein können, drehen sich auf Spießen. Wie schön wäre es jetzt gewesen, einen kurzen Plausch in der Landessprache mit den Verkäufern zu beginnen und in Erfahrung zu bringen, was da schickes brutzelt. Vielleicht Tauben – die Taube soll ein durchaus schmackhafter Vogel sein.
Die Sonne wärmt meinen Kopf, die Hitze des Sommers hat längst das Regiment übernommen. Immer mitten hinein ins Geschehen, dorthin, wo was lost ist, wo ich anonym in der fröhlichen Masse untertauchen kann. Hier möchte ich sein, unerkannt mit dem Lokalkolorit verschmelzen. Deshalb sind die ehemaligen Ostblockstaaten die perfekten Reiseziele für mich. Mit meinem Aussehen bekomme ich überallhin die freie Einheimischen-Eintrittskarte – solange zumindest, bis ich den Mund aufmache. So wie jetzt, als ich nach dem Preis für diese handbestickten Folklore-Blusen frage (auf englisch).
Tradition und Kleidung
Solche Kleidungsstücke mit bunten, floralen Motiven habe ich bereits vereinzelt an Mädchen gesehen, kombiniert mit einem Kopfschmuck und einem passenden Rock. Roter Lippenstift ergänzt das Outfit. Immer wieder laufen solch gekleidete Mädels an mir vorbei und immer wieder zuckt meine Hand in Richtung Handy für ein Foto. Nein, liebe Kasia, ermahne ich mich selbst. Diesmal machst du es korrekt. Jetzt, jetzt ist der richtige Augenblick gekommen. Oder doch nicht? Würde jetzt jemand fragen: „Wie introvertiert bist du?“ Auf einer Skala von eins bis zehn bin ich sicher ne Acht. Und sicher dauert es genauso viele Minuten, in denen ich um die Kleine herumschleiche und mich innerlich motiviere, nach einem Foto zu fragen. Was kann schon passieren? Worst case: die Welt geht unter, die Bühne bricht zusammen, just in diesem Moment. Best case: ich bekomme mein Foto. Ich halte dem Mädel solange ihre Wasserflasche, die sie an dem heißen Tag dabei hat, während sie für mich posiert. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.
Männer tragen eine Uniform bestehend aus hellen Hosen, weißen, bestickten Hemden und schwarzen Hütten. Überhaupt ähneln sich die traditionellen slawischen Kleidungsstücke sehr, die Unterschiedlichen Nuancen sind spannend, doch für das ungeübte Auge marginal. Die Musiker versammeln sich gerade auf einer Bühne – oh, da ist ja die Blaskapelle, die mir auf der Hinfahrt hierher die Straße blockiert hat. Sie stimmen ihre Instrumente. Vor der Bühne hat sich bereits eine Menschenmenge eingefunden. Stühle stehen für jeden bereit, und über den Köpfen der Zuschauer sind Sonnensegel gespannt, durch die sanft ein matter Schein dringt. Ich habe Glück und kann einen der wertvollen Plastikstühle ergattern – wer zu spät kommt, den beißen die Hunde. Oder der muss stehen – genauso doof.
Die Sonnensegel sind ein guter Gedanke. Verstohlen sehe ich mich um, meine Blicke wandern zu den dampfenden Essensständen, den umherlaufenden Menschen und zu den Vögelchen am Spies. Irgend etwas essbares muss her, das Frühstück fiel spärlich aus. Aber darum würde ich mich später kümmern. Im Augenblick beginnt die Musik zu spielen, zuerst ein paar Probetöne, dann ganze Musikstücke. Die Jungs blasen pausbackig in die Posaunen (oder was auch immer, ich kenne mich mit Blaskapellen nicht aus…). Die Mädels indessen haben nichts zu tun und drücken sich vor der Bühne herum. Wie die junge Schönheit, die ich soeben abgelichtet habe. Schnell wird es mir eintönig und ich suche das Weite, überlasse einen der seltenen Stühle nicht ohne Widerwillen einigen Umherstehenden, die mir das Ding, wenn die gute Erziehung nicht wäre, sicherlich direkt beim Aufstehen unter dem Hintern weggezogen hätten. Nein, Leute, ich scherze nur. Wenn man was gelernt hat in den ehemaligen Oststaaten, dann ist es Höflichkeit. Doch sobald ich mich umdrehe, sehe ich keinen freien Platz mehr. Genießt eure Blaskapelle.
„Auf einer Skala von eins bis zehn, wie introvertiert bist du?“ Zweiter Versuch, dies zu beantworten. Wenn ich in einer fremden Sprache, mithilfe meiner App und mit Zunahme von Händen und Füßen fragen soll, was das ist, das da in der Gluthitze brutzelt, dann laufe ich lieber hungrig herum. Also schleiche ich noch einmal um den Essensstand, werfe einen sehnsüchtigen Blick auf die knusprigen Tauben (?) und ziehen magenknurrend zu den Ständen mit Nippes. Blöd, was? Nun, meine Oma hatte dazu eine poetische Weisheit parat, die da lautet: „Vor Hunger hat sich noch keiner in die Hosen geschissen.“ Treffend und charmant zugleich.
Kunst und Folklore
Stände mit Nippes. Es ist alles da. Bestickte Kleidung, Figürchen, Haushaltswaren. Gerade betrachte ich interessiert handgenähte Püppchen, die kleine Leute und Wesen aus dem Volksglauben darstellen und ärgere mich ein wenig über die Gruppe Menschen, die sich redend und gestikulierend vor mich geschoben hat. Bis mir auffällt, dass die Leute keine regulären Besucher sind. Es handelt sich anscheinend um eine staatliche Institution mitsamt einem Fernsehteam, welches der überraschten und glücklichen Verkäuferin eine Urkunde in die Hände drückt. „Für die Bewahrung und das Fortführen moldauischer Traditionen“, hätte ich dem entnommen. Die Frau hatte damit sichtlich nicht gerechnet und posiert schüchtern lächelnd in die Kamera. Für mich posiert sie auch, vermutlich denkt sie, dass ich ebenfalls zum Team gehöre. Ich schaue mir ihre handgemachten Püppchen an, halte zwei in der Hand und entscheide mich für eines, dann überlasse ich die Verkäuferin ihrem Glück. Als ich im Begriff bin, wegzugehen, tippt es mir von hinten auf die Schulter. Es ist die Frau, die mir das zweite Püppchen in die Hand drückt. Als Geschenk. Weil sie einen schönen Tag hat. Und weil ihr Werk gewürdigt wird.
Bei der hocherfreuten Dame handelt es sich um niemand Geringeres als Larisa Popovici, eine Handwerkerin und Leiterin des Kreises für dekorative Floristik. Sie ist so etwas wie eine lokale Bekanntheit, könnte man sagen. Frau Popovici widmet sich in ihrer Freizeit der Kunst und häkelt alle Arten von Tieren, Pflanzen und Pilzen her, die sie auf Festivalen an ihrem eigenen Stand verkauft. Das meiste hat sie sich selbst beigebracht, durch Ausprobieren und Entdecken neuer Methoden. Am meisten hat es ihr Spielzeug angetan, kleine Puppen und Figuren der Folklore. Zwei davon ruhen nun in meiner Hand.
Ich bin auch glücklich, aber ich bin auch hungrig. Zielstrebig steuere ich ein Lokal an am Rande des schattigen Platzes. Alle freien Plätze sind bereits belegt, draußen sitzen die Folklore-Mädels herum. Sie sei euch gegönnt, eure Mittagspause – doch wo esse ich jetzt? Weniger zielstrebig wende ich mich in Richtung der Kebab-Bude, doch auf Nachfrage erklärt mir der Mann, dass es erst in einer Dreiviertelstunde wieder die nächsten Kebabs gibt. Ich fühle langsam mein Fleisch sich vom Knochen lösen und meinen Magen laut schreien. In einer Dreiviertelstunde? Das reicht, ich fahre ins Hotel. Zum Glück hat sich der anfängliche Stau, der dem Durchmarsch der Musikkapelle geschuldet war, inzwischen aufgelöst.
Das Hotel hat eine schöne Terrasse. Zum Essen haben sie nur Ungesundes, dazu köstliches, lokales Craftbier. Man lebt nur einmal, egal, wie lang. Ich entscheide mich für Chickenwings und Kartoffelecken. Man spricht hier englisch und akzeptiert eine Visakartenzahlung, was will ich mehr. Mampfend sehe ich zu, wie die Hotelmanagerin – dieselbe, die mir neulich einen Weinöffner und ein Glas aufs Zimmer brachte – mit ihren Enkeln spielt. Woher ich weiß, dass es die Enkel sind? Na, ich verstehe inzwischen ein klein wenig russisch – wenn jemand laangsam spricht.
Nach dem Essen gibt es für mich nichts mehr zu holen und ein Nickerchen am Nachmittag rückte in greifbare Nähe – wenn da die beiden Belgier nicht waren, die mir bereits an meinem ersten Tag in Soroca begegneten. Sie erzählen mir nun von einer schönen Holzkirche, die man sich hier am Ufer der Dnjestr anschauen könne. Eine Holzkirche, ist sie das wert? Frage ich mich, denn normalerweise steht nur wenig zwischen mir und dem Schlafbedürfnis. Schattiges Hotelzimmer, wir sehen uns später. Seufzend tappe ich los. Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.
Die Blaskapelle, die Puppen, deine Jagd nach dringend benötigtem Futter: was für ein unterhaltsamer Beitrag! Gut, dass du deinen hohen Grad an Introversion punktuell überwinden kannst und so an tolle Fotos kommst 😎.
Meistens sind die Leute auch aufgeschlossen, wenn man sie fragt, dann steht dem schönen Foto für die Ewigkeit nichts mehr im Wege. Interessanter Weise bin ich offener, wenn ich mit anderen unterwegs bin, alleine „kämpfe“ ich mich irgendwie so durch und bin nicht so der gesprächige Mensch (und sowas wie ich geht auf Reisen, ich weiß, ich weiß…)
Alles gut, du bist in Ordnung so wie du bist 😎.
Vor allem auf Reisen kennt mich keiner 😉
Das denke ich in Bezug auf mich selbst auch häufiger 😅. Und das ist wohl auch gut so.