Europa, Moldawien

Moldawien – Soroca (2)

02.06.2024

Gypsy-Hill

Riesige Paläste. Goldene Dächer. Mosaiken aus Stein. Das Kapitol. Oder sollte ich besser sagen: das „Kapitol“? Ich befinde mich im sprichwörtlichen Reich der Roma, fahre im Schritttempo die fast leeren Straßen entlang. Hier und dort ein verstohlenes Foto – noch immer finde ich es seltsam, irgendwo aufzutauchen und anderer Leute Privathäuser zu begaffen. Aber ich habe einen Informationsauftrag euch gegenüber, liebe Leser – und wenn wir schon so ehrlich miteinander sind, dann seid ihr mir auch eine willkommene Ausrede, die ein wenig das schlechte Gewissen lindert, während ich wie ein Spanner unterwegs bin, um meine Neugier zu befriedigen.

Ja, liebe Leser, richtig gehört. Hier geht es rein um Neugier. Wer hat denn nicht vom berühmten Zigeunerhügel am Rande der „Roma-Hauptstadt“ gehört? Warum Zigeunerhügel und nicht „Zigeuner“-Hügel, wird sich so mancher fragen. Nun, hier, in diesem Teil des Landes, in dieser Stadt, ist Gypsy (engl. für Zigeuner) keine Beleidigung von Minderheiten. Menschen, die hier leben, bezeichnen sich so, nicht ohne Stolz.

Kurz zu dem. Die Bezeichnung „Gypsy“ ist umstritten. Sie stammt aus dem Englischsprachigen und leitet sich von „Egyptian“ ab, was auf die früher weit verbreitete Theorie hinweist, dass die Gruppen der Fahrenden Völker ursprünglich aus Ägypten kamen. Diese Theorie ist inzwischen widerlegt, während die Bezeichnung blieb und seitdem Kontroverse auslöst. Während viele den Begriff als diskriminierend sehen und lieber von Roma sprechen, gibt es Aktivisten, die dieses Wort für sich zurückerobern wollen. Wollt ihr meine Meinung hören? Wer sind wir, um uns da einzumischen. Eine jede ethnische Gruppierung entscheidet selbst darüber, wie sie genannt werden will, diese Debatten sollten nicht Außenstehende führen.

Die Ansammlung der Villen auf Hügeln über der Stadt wurde von hier lebenden, sesshaften Roma erbaut. Als ich kurz am Wegesrand halte, um das „Kapitol“ abzulichten, holt ein alter, zahnloser Mann mich langsamen Schrittes ein. Ich verstehe kein Wort von dem, was er sagt, doch die weit geöffnete Hand verstehe ich. Ich schüttle verneinend den Kopf und steige schnell wieder in mein Auto; der Mann geht vor sich hin murmelnd weiter. Na hoffentlich hat er mich jetzt nicht mit einem Fluch belegt, denke ich beklommen. Was denn, ich glaube an so ein Scheiß. Insbesondere nach meinem kürzlich erfolgten Erlebnis mit der frommen Clique in Mazedonien halte ich nichts mehr für unmöglich.

Der Wagen wird am Rande einer schattigen Straße abgestellt und die Gegend zu Fuß weiter erkundet. Vom grummeligen Opa ist weit und breit nichts mehr zu sehen und ich vermeide es tunlichst, ihm nochmal zu begegnen. Klischees in meinem Kopf. Mensch, Leute, macht es mir doch nicht so leicht.

Manche dieser schicken, mehrstöckigen Villen wirken bewohnt – oder zumindest fertiggestellt. Andere stehen als unfertige Bauwerke da, ohne Fenster, unverputzt, ganz so, als wäre mitten im Bau das Geld ausgegangen. Ich habe mir sagen lassen, dass die Anwohner meist in einem kleineren, eingerichteten Häuschen hintenan leben.

 

Der Zigeunerbaron

Der Zigeunerbaron, namentlich Artur Cerari, wartet meist vor seinem Haus. Er unterhält sich mit Besuchern und lädt sie – gegen eine kleine Spende – zu sich nach Hause ein. Auf der Webseite „HiMoldowa“ kann man von vorne herein einen Besuch im Haus des Barons buchen. Drei Stunden Unterhaltung mit dem Baron und ein Mittagessen für schlappe hundert Euro. Irgendwie müssen sich die Häuser ja finanzieren. Artur Cerari gilt aktuell als der wirtschaftlich erfolgreichste Roma Moldawiens. Der selbsternannte Zigeunerbaron ist über die Grenzen des Landes bekannt, ebenso wie der Gipsy Hill; beide finden sogar einen Eintrag in Wikipedia. Sein verstorbener, Vater Mircea Cerari, war noch berühmter. Zu Lebzeiten bezeichnete er sich selbst als der König aller in Moldau lebenden Zigeuner.

Den Zigeunerbaron sehe ich nicht – zumindest nicht bewusst. Ja, es steht jemand vor seinem Haus, als ich zur Candle of Gratitude fahre, doch der oft auf Aufnahmen gesehene Rauschebart fehlt. Irgendwann eines Tages mache ich mir diesen Spaß und buche ein solches Treffen für einen – für moldawische Verhältnisse – horrenden Betrag. Für manche Roma ist es ein äußerst lukrativer verdienst, auch wenn der Gipsy Hill nicht aktiv beworben wird. Für den Touristen bleibt eine gute Geschichte, die man später gerne seinen Enkeln erzählt. Doch heute tragen mich meine Füße nach ein paar wenigen Aufnahmen zurück zum Auto und hinunter in die Stadt.

In Soroca indessen ist Stau. Mein Hotel liegt just zwei Straßen weiter im Stadtzentrum, doch es ist kein Durchkommen. Der mit einem Male von Polizisten geregelte Straßenverkehr kommt kurzzeitig zum Erliegen, eine Blaskapelle zieht sich wie eine Raupe über die Fahrbahn gen Stadtmitte. Ich gebe das sinnlose Unterfangen auf, schnell in das siebenhundert Meter entfernte Domizil auf Zeit gelangen zu wollen und fahre in eine Seitenstraße. Hier stelle ich den Kia Picanto ab und steige aus, um mir die Sache einmal genauer anzusehen.

 

Die Burg von Soroca

Die heutige Festung wurde im 16 Jahrhundert vom Sohn Stefan del Mares errichtet, um die Grenze des damaligen Bessarabiens zu schützen. Vor der heute erhaltenen Burg, die seit ihrer Erbauung ihre Originalform erhalten hat, gab es einen Vorgängerfort aus Holz, der eine wichtige Rolle beim Schutz vor Überfällen der Tataren spielte. Neben Soroca schützten noch drei weitere Burgen das Flussufer. Während die anderen Burgen im Laufe der Zeit aufgrund baulicher Maßnahmen abgerissen und verändert wurden, blieb die Festung von Soroca fast unverändert. Sie ist heute eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten des Landes und ein Wahrzeichen der Stadt.

Langsam schlendernd nähere ich mich der Festung. Wie aus einem Märchen wirkt sie auf mich mit ihren runden, hutförmigen Dächern, die auf dicken, grauen Türmen hocken. Sie wird von einem grünen Park umgeben, einem von vielen Grünanlagen in Soroca. Weiße Schäferwolken auf blauem Himmel garnieren meine Reiseaufnahmen für die Ewigkeit.

Was es nicht leicht macht, ist die Tatsache, immer mal wieder von jemanden angesprochen zu werden. Diesmal ist es ein Mann, der etwas wie ein ausgewaschenes Dokument in der Hand hält, das ich nicht verstehe. Dass er Geld möchte, verstehe ich, Nepp kenne ich zur Genüge. Als ich weiter durch den Park gehe, vollends auf die Burg, den Fluss, den Tag und den Moment konzentriert, so entgeht mir dennoch nicht, dass mir jemand im Abstand folgt. Es ist nicht der Nepper mit dem Dokument, der hat sich verzogen.

Nicht stören lassen. So viele Menschen sind hier. Ganze Familien mit Kindern sind in Soroca unterwegs. Moldawien ist ein durchaus beliebtes Reiseland, wer hätte das gedacht. Nur eben nicht unbedingt für Westeuropäer. Viele Rumänen, Russen, Ukrainer kommen ins Land. Auch die Moldawen selbst werden von den offiziellen Webseiten ihrer Administrationen dazu angehalten, ihr Land zu bereisen, ihre Sehenswürdigkeiten, Traditionen und Kultur nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Ich habe mir mal eine solche Webseite der Stadtverwaltung von Soroca übersetzen lassen. Ihre Sprache klingt so poetisch. Die Art, Geschichte zu beschreiben. Vergangenheit wird lebendig dort, wo es in Deutschland lediglich für eine nüchterne Abfolge der Geschehnisse gereicht hätte. Kein Beamtenkauderwelsch, nein, ich bin mittendrin. Versucht es mal: https://www.primsoroca.md/ro/istoric

Ich setze mich auf eine Bank und behalte meinen unfreiwilligen Schatten im Auge. Er steht am Ufer des Dnjestr und telefoniert, dabei behält er mich wiederum im Auge. Irgendwann werde ich ihn los, als ich mich in Richtung Stadt bewege. Schließlich bin ich allen Anschein nach in ein Stadtfest inklusive Blaskapelle geraten, und dem will ich jetzt nachgehen. Mehrere Male drehe ich mich um, doch es ist niemand hinter mir. Auch nicht im Abstand, auch nicht verstohlen. Mit Leute abschütteln kenne ich mich aus. Mein Schatten hatte nie eine Chance. Vielleicht habe ich ihn auch in den Dnjestr geschubst, wer weiß. Aber psst… das bleibt auf ewig in Soroca.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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6 Kommentare

  1. Ja, manchmal wird die Diskussion um ach so perfekte political correctness zu krampfig geführt, vor alle von denen, die gar nicht selbst betroffen bzw. gemeint sind. Ich habe mich in den USA schon häufiger mit Leuten unterhalten, die sich ganz selbstverständlich als Afro-Amerikaner bezeichnen, ganz ohne ironischen Unterton. Würde ich den Begriff hier im hippen Berlin verwenden, würde es nicht lange dauern, bis mich einer als Rassistin bezeichnet 😅. Ich halte es in der Regel so, dass ich abwarte, wie Leute sich selbst bezeichnen und versuche dann abzuschätzen, ob ich den gleichen Begriff dann auch verwenden dürfte/sollte. Am liebsten aber umschiffe ich solche Situationen mehr oder weniger elegant 😁.

    Anderes Thema: die Villen sind zum Teil ja echt beeindruckend! Interessant, aber irgendwie auch nachvollziehbar, dass das eigentliche Wohnen oft in kleineren, bescheideneren Häusern dahinter stattfindet. Heiz du mal so eine Riesenbude und halte sie instand! Da wirst du ja nie fertig und gleichzeitig arm dabei.

    1. Manche wohnen in diesen Villen, aber eigentlich sind sie „nur“ als Statussymbole zu betrachten, denke ich. Ein kleineres Heim finde ich auch gemütlicher. Wenn ich nächstes Mal in Soroca bin, gönne ich mir eine Audienz beim Zigeunerbaron. Wenn schon, denn schon. Und mal muss es so sehen: es kostet nicht mehr als zehn Döner heutzutage… ohne die Cola 🙂

  2. Es ist nicht nur eine Frage was man sagt, sondern auch wie es gemeint ist. Viele Sinti und Roma in Deutschland legen Wert auf die Differenzierung, was einige von ihnen aber nicht davon abhält sich untereinander Zigeuner zu nennen. Unproblematisch ist das Wort aber nicht, bedeutete es früher doch so viel wie umherziehender Gauner. Irgendwie verbinden wir dieses Image bis heute mit diesem Begriff. Ob man wegen Zigeuner-Sauce und Zigeuner-Baron heute so einen Aufriß machen muss glaube ich ehrlich gesagt eher nicht. Oft kommt es – wie gesagt – darauf an wie es gemeint ist und ob sich tatsächlich jemand beleidigt fühlt. Viele Sinti und Roma sehen das ganz entspannt – aber eben nicht alle. Und deutsche Sprachverbesserer schon gar nicht!

    1. Es ist nicht an uns, zu bestimmen, wann sich jemand beleidigt fühlen sollte und wie du sagst: oft zählt die Intention bzw. der Kontext mehr als das einzelne Wort an sich. Ich wünschte, die Bedeutung mancher Begriffe würde sich ändern und die negative Konnotation verlieren. Und das passiert nur, wenn betroffene Minderheiten „ihre“ Bezeichnung wieder adaptieren und positiv besetzen. Das kann man bei der schwarzen Community schon beobachten, wo „schwarz“ nicht mehr durch „farbig“ ersetzt wird. Dazu habe ich einen Post auf Insta gesehen, wo jemand sagte: „Hey, Leute, nennt mich nicht farbig. Ihr seid weiß, manchmal rot, wenn euch schlecht wird, grün. Ich bin schwarz, wenn, dann seit ihr farbig.“ Das war natürlich humorvoll gemeint, aber die Botschaft war klar 🙂

  3. Eine schöne Reise machst du wieder. Dieses Mal eine neue Erfahrung mit einem Land das außerhalb unseres normalen Wirkungskreises liegt. Wie du schreibst, trifft man fast nur auf Leute aus dem Osten.

    Die Einwohner werden als Zigeuner bezeichnet und sind stolz darauf. Warum auch nicht? Wer ist nicht stolz auf sein Land? Wir hatten früher öfter Kinder in unserer Klasse, die nur eine gewisse Zeit bei uns waren und die zum fahrenden Volk gehörten. Die haben dazu gehört und wurden nicht ausgegrenzt. Dazu, dass das Wort Zigeuner nicht mehr verwendet werden soll, haben wie immer ein paar Einzelpersonen beigetragen, die sich nicht so verhalten haben, wie sie eigentlich sollten. Das ist heute auch bei anderen Nationalitäten genauso.

    Wie war das eigentlich mit deinen Verfolgern? Haben die dich tatsächlich verfolgt oder war das eine hintergründige Angst von dir.

    Weiterhin eine schöne Reise.

    Liebe Grüße Harald

    1. Hi Harald,
      die östlichen Staaten sind für mich interessant, weil eben komplett unbekannt. Die deutsche Roma-Community empfindet den Begriff „Zigeuner“ als beleidigend, doch das schien mir in Moldau ganz und gar anders zu sein.
      Der Verfolger war nur einer und durchaus „real“, hintergründige oder sonstige Ängste habe ich eigentlich nicht. Doch die Situation hat sich schnell aufgelöst, also kein Grund zur Sorge 🙂

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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