Ich sitze auf einer Bank am Baybach und höre sein leises Murmeln. So vieles geht mir durch den Kopf. Ein kleines, dunkles, sich mal schmäler, mal breiter schlängelndes, rund siebzig Zentimeter breites Flüsschen. Unglaublich, dass so etwas winziges und friedliches eine solche Zerstörungswut in sich tragen kann. Gut, der Baybach war in diesem Falle nicht von der Flut betroffen. Doch die Flüsse, die Verderben brachten wie die Ahr oder die Prüm – viel größer sind sie nicht gewesen. Und vielleicht gerade deshalb, gerade durch ihr schmales Flussbett gewannen sie an Stärke und nahmen alles mit, was sich ihnen in den Weg stellte.
Und nun, wenn die Tragödie vorbei, wenn all das Leid abgeklungen ist, werden sie wieder leise murmeln, sie werden wieder langsam, beschaulich, gemächlich plätschern. Und wenn es nicht schon geschehen wäre, hätte sich kaum jemand vorstellen können, wozu sie fähig sind.
Wie geht es den Menschen dort vor Ort? Wie wird es ihnen gehen, jedes Mal, wenn sie den dünnen Rinnsal anschauen? Ich denke, die Menschen im Tal werden ihrem Fluss von nun an mit anderen Augen begegnen.
Trolle auf Felsen.
Es wird Abend, und, ihr wisst schon. Meine Fantasie…
Normalerweise habe ich inzwischen zur Genüge Pilze gesichtet und fotografiert, doch ein seltsames Exemplar „läuft“ mir über den Weg. Es ist weiß, lang und ragt kräftig und stämmig aus dem Boden. Seine an Spargel erinnernde Spitze ist mit Schmeißfliegen bedeckt. Insgesamt wirkt dieses ungewöhnliche Gewächs wie… na sieht selbst.
Es ist eine Stinkmorchel, wie ich später nachlesen kann. „Kleine Stinker mit Verwesungsgeruch“. Sehr lecker. Das würde zumindest die vielen Schmeißfliegen erklären (die auf dem Foto nicht zu sehen sind, da ich sie verscheucht habe…). Sie gehören zur Gruppe der Phallaceae, der „Ständerpilze“, und den Grund dafür könnt ihr euch ja denken. Der Schleim des ovalen Fruchtkörpers zieht Aasfliegen an. Der Fruchtkörper wird auch aus „Hexenei“ bezeichnet, er entwickelt sich in den frühen Morgenstunden zwischen fünf und sieben Uhr.
Um die Stinkmorchel ranken sich viele Volkslegenden. Eine davon erzählt von einem Teufel, der mal so wütend war, dass er sich eine alte Oma packte und sie in Stücke riss. Dort, wo die Stücke der Frau auf die Erde fielen, wuchs eine Morchel aus dem Waldboden, deren Kopf genauso verhutzelt aussah wie das Gesicht der alten Frau.
Auch als „Leichenfinger“ bezeichnete man diesen Pilz. Er wuchs, wenn man Erzählungen Glauben schenken wollte, auf Gräbern von Verbrechern, welche ihre begangenen Straftaten nicht zu Lebzeiten gesühnt haben und diente als Warnung für andere, ihre Angelegenheiten rechtzeitig zu regeln. (Quelle: Der Xantener – Stinkmorchelgeschichten)
Nun bin ich wieder etwas höher über der Baybach. Tierpfade führen extrem steil den Abhang hinunter bis ans Wasser. Über Monate, sogar Jahre haben sich die Tiere diese Wege erarbeitet und nutzen sie – immer die gleichen. Es sind Pfade, die nicht von Menschen stammen können. Zu hoch, zu steil. Doch Tiere? Warum nicht. Schließlich ist auch ein Tier ein… Gewohnheitstier.
Selbst der Bauer hat die Arbeit am Heufeld beendet und zieht mit seinem Traktor an mir vorbei und von dannen. Feierabendzeit, für jeden. Kasia, was machst du hier, so weit von Mannheim entfernt, in Idar Oberstein? Das Heu liegt in fein säuberlichen, langgezogenen Stapeln auf dem Feld verteilt. Wird Zeit, dass ich nach Hause komme.
Und doch, entgegen meines Vorhabens, fotografiere ich noch einen Pilz. Und noch einen Pilz. Und noch einen. So. Das war jetzt aber der letzte…
Wandern. Ich habe das früher schon mal gerne gemacht. Na ja, nicht so wie jetzt, mit Wanderschuhen und Rucksack und allem drum und dran. Sondern, ich bin einfach raus und in den Wald, bin dort spazieren gegangen. Meist war es der nächstgelegene, den ich gerade greifen konnte; irgend ein Mannheimer Forst. Doch ich habe relativ schnell wieder damit aufgehört. Wenn etwas keinen Sinn ergibt und in Ziellosigkeit mündet, langweilt es mich und ich höre damit auf. Doch das „richtige“ Wandern ist schon was anderes. Wanderschuhe an, Rucksack auf den Rücken und eine schöne, neue Gegend zu Fuß erkunden. Eine neue Wanderstrecke eruieren. Eine geprüfte Wanderstrecke mal testen. Etwas sehen, etwas erleben – das klingt doch schon mal anders. Das klingt nach einer richtigen Aufgabe. Das klingt nach etwas für mich. Zielloses umherschlendern? Nein. Wandern? Yeah man!
Und dann geht mein Blick nach oben. Weg vom Fluss, den Abhang hinauf. Ich stelle mir inmitten von diesem düsteren Grau der fehlenden, frischen Vegetation mit einem Mal Wölfe vor, die zwischen den Bäumen auftauchen und, in Abständen verteilt, im Kreis immer weiter hinunter gehen, mich umzingeln und ihre Jagdstrategie optimieren.
Ach ja. Ich seufze. Es wird wohl noch dauern, bis riesenhafte Wolfsrudel sich im Dickicht anpirschen.
So eine schöne Waldstrecke. So ein schöner, waldiger Pfad, an Wurzeln und emporragenden Felsen vorbei. An schroffen Steinen und dem schwarzen Fluss. Schmale Wege, wo Trittsicherheit gefordert ist. Hah… mitnichten führt der Weg, wie anfangs befürchtet, nur an goldenen Weizenfeldern vorbei.
Ich mache tausend Bildern von der verzauberten Szenerie. Doch in Wahrheit bin ich auf der Suche nach diesem einem. Nach diesem einem, magischen Bild. Nach diesem einem, magischen Moment, der das Gefühl, hier gewesen zu sein, am besten einfängt.
Ein einsamer Vogel verteidigt sein Revier. Und der Fluss klingt, als würde er reden. Als hörte ich in der Ferne Stimmen. Stimmen von Menschen? …von Geistern?
Und doch passiert es selten, dass ich wirklich im Hier und Jetzt, im Augenblick bin. In diesem Augenblick. Denn normalerweise fühle ich mich wie durch eine milchige Glasscheibe; wie durch eine unsichtbare, transparente Hülle von der Realität getrennt. Ich fühle mich separiert von dem Plätschern des Flusses. Von dem Gezwitscher des Vogels. Von den Sonnenstrahlen, die auf den schwarzen Boden fallen. Nur für einen Moment möchte ich rasten. Wirklich rasten, aus meinem Innersten heraus. Stehen bleiben und wirklich hier sein, und den Schleier durchbrechen. Denn eigentlich treibt uns immer irgend etwas weiter. Dieses Mal ist es die Gewissheit, dass der Tag bald endet und ich meine Route schaffen will/muss, bevor es dunkel wird. Doch in Wahrheit möchte ich nichts anderes, als mich ans Wasser setzen und solange hier bleiben, bis die Nacht hereinbricht. So lange, wie es nur geht. Den Schleier zerreißen. Solcher Momente gibt es nur selten, denn das gelingt nur selten. Und wenn es einmal gelingt, dann sehen wir Dinge, die ansonsten unerkannt bleiben. Wie die grüne Hand des Trolls, der sich versucht, aus dem Wasser des Flusses nach oben zu ziehen.
Ein vorbeilaufender Jogger stört kurz meine Märchenstunde. Vielleicht sollte ich tatsächlich weiter. Schleier hin oder her…
Und schon gehe ich wieder weiter, und die Sonne hat sich durch die Bäume gekämpft, und der Wald ist nur noch Wald. Und der Troll ist weg. Und der schwarze Fluss ist weg. Es sind noch knapp sechs Kilometer bis zum Ziel.
„Gemeinsam miteinander“ und „Hass ist Gift“, mahnen zwei von Wanderern beschriebe Täfelchen. Und… ach wie süß. Ich bemerke es erst im zweiten Augenblick. Da hat jemand auf die natürlichen Felsstufen und Vorsprüngen kleine Steine platziert; alles Steine, die von ihrer Form her an ein Herz erinnern. So viele Herzen. Unzählige Herzen.
Zum Abend hin belebt sich der Wald. Jogger, Sportler, Hundebesitzer. Doch die Stimmung wird auch schöner. Und… nun denn… die Mücken aktiver. Glücklich, wer ein Repellentienspray in der Tasche dabei hat.
Zuerst kommt der Hund. Dann kommt der alte, sehr agile Mann. Mit diesem Hundebesitzer führe ich ein längeres, angenehmes Gespräch. Wir unterhielten uns über Gott und die Welt. Na gut, mehr über die Welt. Nur eines davon möchte ich wiedergeben.
„Warschau?“ Sagt er. „In Warschau war ich mit dem Motorrad unterwegs.
„Und?“ Frage ich. „Haben Sie das Motorrad noch?“
Den lockeren Witz mit klischeebeladenem Kontext hat er nicht verstanden, denn er meinte traurig: „Nein. Ich hatte vor einiger Zeit einen Unfall.“ Er zeigt mir sein Bein und die Narben. „Die Ärzte haben gesagt, ich würde nie wieder richtig laufen. Doch ich laufe, und wie. Bis zu fünf Kilometern am Tag kann ich bereits laufen. Ich bin von Anfang an gelaufen, immer mehr und immer weiter. Ich habe trainiert.“
„Sie wollten sich damit nicht abfinden.“ Sage ich und er bestätigt.
„Ja. Ich – ich finde mich mit gar nichts ab.“ Er nimmt sein Cappy ab. „Sie können Mark zu mir sage. Siebzig bin ich schon.“
Und darauf ziehe ich jetzt eine Metapher zum Thema wir, das Leben und dass man niemals aufgeben sollte. Doch das mache ich vielleicht, wenn ich angekommen bin…
Pilz-Porno 😁! Ja, sowas begegnet einem auf den Waldwegen auch. Und interessante Gesprächspartner. Und schöne Nachmittagsstimmungen. Wandern ist klasse! Freut mich, dass auch du die etwas sportlichere Variante des Spazierens für dich entdeckt hast. Noch mehr aber freut mich natürlich, dass du jetzt endlich auch wieder „richtig“ auf Reisen bist 😎.
Das „richtig“ Reisen hat wirklich sehr gefehlt. Auch das selbstverständliche Fortbewegen auf Flughäfen dieser Welt. Reisen ist wirklich toll.
Aber sowas von 😍😍😍!
Wunderschön!!! Danke fürs Teilen 😊
Liebe Grüße und einen schönen Abend,
Roland
Vielen Dank! Ich freue mich, dass es dir gefällt 🙂
Es ist als wäre man mit dabei, wenn du berichtest. Sehr schön.
Vielen Dank, liebe Rina. Ich habe so viel Kopfkino beim Wandern, irgendwo muss das alles ja hin 😉
Immer her damit – wir wollen gerne dabei sein 😁
Da kommt noch ganz, ganz viel, versprochen 🙂
Ui…🤗
Auf den ersten beiden Bildern schlängeln sich weiße Schlangen aus dem Wald. Solche habe ich in Deutschland noch nie gesehen. Du hast diese Wanderung wieder sehr schön beschrieben. Man könnte sich fast ärgern nicht dabei gewesen zu sein.
Liebe Grüße und einen schönen Sonntag.
Harald
Wir waren gestern auch unterwegs. Altersentsprechend. Das heißt ein längerer Spaziergang von 5 Kilometern.
Fünf Kilometer ist auch schon ziemlich gut 🙂 Es kommt immer darauf an, wo man ist und ob das Terrain flach oder eher hügelig und schwierig zu begehen ist. Der Buchsbaumweg an der Mosel hatte nur drei Kilometer, und trotzdem hat es sich angefühlt, als wäre ich zehn gelaufen 🙂
Nein, du möchtest nicht wirklich mit mir zusammen laufen, ich bleibe wirklich bei jedem Blümchen stehen 😉 Doch das Baybachtal ist wunderschön, ich kann es nur jedem empfehlen 🙂
Liebe Grüße
Kasia
Wenn ich mit meiner Frau unterwegs bin ist es genauso. Ich bleibe stehen und gucke genauer und ihr wird es langweilig. Obwohl, seit sie das Fotografieren mit dem Handy entdeckt hat gibt es das auch umgekehrt.
LG Harald
Wunderschön geschriebene Kasia. Es scheint, dass ich den ganzen Spaziergang erlebe. Ich fand die Legenden, die über den Stinkpilz (so nennen wir es auf Niederländisch) kursieren, sehr interessant. Ich bin vor kurzem selbst auf diesen Pilz gestoßen. Der Geruch ist nicht wirklich angenehm und die Fliegen waren in großer Zahl vorhanden. Clever von dem alten Mann, der sich nicht mit seinem Schicksal abgefunden, sondern es selbst in die Hand genommen hat … jetzt führt er seinen Hund wieder durch den Wald. Eine weise Lektion für uns.
Vielen Dank, Rudi. Die Geschichten waren mir bis dato ebenfalls unbekannt. Doch selbst ohne dieses Wissen um die Legenden fällt der Pilz sofort ins Auge, wenn man ihm begegnet, „Mein“ Pilz hat nicht mehr gestunken, wahrscheinlich war das ein älteres Exemplar.
Der alte Mann hat mich sehr beeindruckt. Es zeigt uns, dass sich schlussendlich auch Ärzte irren können und dass vieles von uns und unserem Willen abhängt 🙂
Wunderschön!
Vielen Dank! Ja, es war toll dort 🙂
Traumhafte Strecke – um nicht zu sagen märchenhaft. Das letzte Mal war es das Wildschweinmonster, heute der Troll. Du erforschst Welten, an denen andere achtlos vorbeijoggen…
Ich liebe Monster, und je später die Stunde, umso mehr davon laufen im Wald herum… das auf dem Titelbild war gerade dabei, aus dem Bach zu kriechen. Glücklicherweise war ich schneller… 😉