Die Via S. Francesco
Die Via S. Francesco durchzieht die Stadt und führt geradewegs zur Basilika, die wie eine Festung bereits von unten im Tal zu sehen ist. Die Basilika des hl. Francesco bestimmt das Stadtbild. Doch der erste Eindruck täuscht, denn der vermeintliche „Festungsteil“ gehört zum Kloster des San Benedetto des Benediktinerordens und hat mit der Basilika San Francesco zunächst nichts zu tun.
Doch die Via S. Francesco, die lange, schnurstracks verlaufende Straße, gibt immer mal wieder einen kurzen Blick zwischen den Häusern und gemauerten Torbögen auf die umliegende Landschaft frei, an diesem kalten Tag verborgen im bläulich nebligen Dunst. Flecken aus hellem und dunklem Grün zwischen terrakottafarbenen Dächern. Steil führen enge Seitengassen nach unten und aus der Stadt hinaus, hin zu den neueren Bezirken. Ich bleibe oben und halten mich an den Hauptweg, die Touristenroute sozusagen; nicht zuletzt deshalb, weil hier Bäckereien und Konditoreien mit bunten Süßigkeiten locken.
Und die obligatorischen Franziskaner-Nonnen, die hin und wieder im Schatten der Gebäude zu sehen sind. Zwei von ihnen gehen ein Stück in dieselbe Richtung und ich versuche, sie wie normale Menschen zu behandeln, sprich: nicht hinzuglotzen. Stattdessen gilt meine Neugier den vielen versteckten Anzeichen der Frömmigkeit der Stadt. Abgebrochene, zum Teil erhaltene Fresken, die Heilige zeigen; massive Türen (was ist dahinter?) mit dem Tau, dem Zeichen der Franziskaner, wie ich später nachlesen soll. Zu meiner linken führen steile Treppen nach unten, zu meiner Rechten schlängeln sich Gassen zwischen den Häusern, hinauf in die höher gelegenen Ebenen der Altstadt. Dort laufen ich nicht entlang; es wird für mich nichts geben bis auf die Wohnhäuser der Bewohner, und die haben ihre Ruhe verdient.
An einem Juwelier bleibe ich kurz stehen. Anhänger und Ringe mit Segnungen des heiligen Franziskus, handgefertigt in Assisi. Warum mich plötzlich Schmuck interessiert, das hat einen ganz anderen Grund. Ich merke mir den Laden.
Und da, zwischen den sonnengelben Häusern blitzt mir schon die Basilika entgegen.
Basilika San Francesco
Und die Gegend öffnet sich, die Häuser der Altstadt bleiben zurück und ich gelange an eine große Rasenfläche, auf der ein Mann auf einem Rasenmäher unermüdlich seine Runden dreht. Der grüne Rasen ist perfekt getrimmt, doch es geht anscheinend noch perfekter. Über eine niedrige Mauer sehe ich wie ein Adler das ganze umliegende Land. Hügel, Felder, Olivenhaine. Häuser. Hier und da eine dünne Linie, auf der sich Miniaturautos wie Insekten entlang bewegen. Der Ausblick ist sensationell. Ich versuche zu erkennen, wo sich unser Campingpark befindet, denn der müsste von hier oben zu sehen sein.
Die weißen Mauern der Basilika sehen makellos aus. Doch das täuscht, denn Umbrien ist ein Erdbebengebiet. In der Nacht zum 26 September 1997 bebte die Erde mit einer Stärke von 5,7 auf der Richterskala und riss halb Assisi mit. Viele Kirchen wurden beschädigt, einige davon schwer. Bei einem Nachbeben am Folgetag stürzte die Decke der Basilika ein. Bei den darauffolgenden Restaurierungsarbeiten wurden 1276 Tonnen Schutt durchgesiebt. Rund 300 000 Einzelteile mussten wieder an die richtige Stelle zusammengesetzt werden – bei 120 000 gelang das. Weitestgehend ausreichend, um die Fresken zu einem großen Teil zu rekonstruieren. Seit 2000 ist die Basilika wieder zugänglich und für Besucher geöffnet.
Meine Augen reißen sich von der Landschaft los. Die Sonne kitzelt in der Nase und ich unterdrücke mehrmals den Drang, zu nießen. Das ist in der heutigen Zeit potentiell tödlich. Oder zumindest fährt es einem viele böse Blicke ein. Und mehrere Meter Bewegungsfreiheit, wenn alle im Umkreis plötzlich wegspringen.
Unten auf dem perfekt getrimmten Rasen sind vor der Basilika mehrere Geistliche zu sehen. Ein Interview bahnt sich an; ein Mann in Kutte steht da, flattert im Wind und beantwortet Fragen. Ich denke mir nichts dabei. Die Sicherheitsvorkehrungen sind extrem hoch; an mehreren Positionen sind hochkonzentrierte Soldaten zu sehen, die auf und ab gehen und alles und jeden im Auge behalten. Wie in Israel, nur nicht so aufdringlich präsent. Aber immer da. Im Hintergrund. Auch da denke ich mir nichts dabei. Doch im Nachhinein – die Hinweise sind eindeutig gewesen.
Meinen Liebsten entdecke ich in der Basilika, wie er versunken da sitzt, in einer der Bankreihen im Seitenschiff, und der Messe lauscht. „Wenn man originale gregorianische Gesänge hören will, dann muss man hierher kommen.“ Sagt er, als ich neben ihm stehe. Und er hat Recht, denn die Gesänge der Mönche benötigen hier keine Pop-Untermalung, um bei den Menschen anzukommen. Ich schaue mich um. Die Basilika ist prachtvoll. Viel Gold und viel Azurblau an den Decken – muss man gesehen haben. Und auch wenn das Fotografieren streng verboten ist und es Menschen gibt, die darauf achten – einen Besuche ist sie allemal wert.
„Bist du schon unten in der Krypta gewesen?“ Fragt mich Stefan, während die Gesänge durch die Kirchenräume gleiten.
„Krypta? Was gibt es dort?“ Frage ich gelangweilt. Die Gebeine mir unbekannter Menschen interessieren mich nur bedingt und die eine Krypta gleicht oft der anderen.
„Der heilige Franziskus wurde doch hier bestattet.“ Ach ja, da war was. Ich breche auf und schließe mich den Menschen an, die die Treppe hinunter strömen, nicht ohne meinem Liebsten das Versprechen abzunehmen, dass er genau hier an Ort und Stelle auf mich warten wird.
Die Ruhestätte des hl. Franz
Unten verstummen die Gesänge der Mönche. Die Corona-konforme Treppe führt mich hinunter zu einem mittelgroßen Raum. Hier oben, auf einem Podest, steht ein Altar voller Blumen. Hinter diesem Altar, in einem steinernen Sarkophag, verbergen sich die Überreste des Heiligen. Ein erhabenes Gefühl, hier in diesem Raum zu sein. Da ich einen Bezug zu St. Francesco habe, fühlt sich das nach mehr als nur Sightseeing an.
Hier, am unteren Hang des Berges Monte Subasio, befand sich ehemals eine Hinrichtungsstätte. 1228, im Jahr der Heiligsprechung Franziskus, wurde mit der Errichtung der Basilika als Ruhestätte für den Heiligen begonnen. Der Gedanke, die Grabeskirche an einem ehemaligen Hinrichtungsort zu bauen, hatte das Beispiel Jesu im Sinn. Dieser wurde ebenfalls an einer Hinrichtungsstelle, Golgota, getötet.
Viele Menschen kommen hierher, knien nieder und beten. Vermutlich wünschen sie sich dies und jenes von ihrem Lieblingspatron, so wie es bei Gebeten oft der Fall ist. Der Glaube ist stark, dass St. Francesco über einem wacht. Ich muss schmunzeln. Wünsche habe ich keine. Der Mann war schließlich Bettelmönch, nicht der Weihnachtsmann.
Links vom Altar steht ein Priester und verkauft Papiere an die Gläubigen. Ablasshandel? – kommt mir als erstes in den Sinn. Doch vielleicht sind es Pilgerbescheinigungen oder etwas in der Art.
Als ich wieder oben bin, geht die Messe gerade zu Ende. Ohne die Gesänge ist es seltsam leer in der Kirche.
„Das Fotografieverbot wird hier streng durchgesetzt.“ Sagt Stefan, als ich später neben ihm stehe. „Und zwar von den Leuten selbst. Unten in der Krypta meinten zwei Touristen, ihre Kameras rausholen zu müssen. Die Reaktion der Leute war… ähm… sehr deutlich. Und zwar noch bevor jemand von der Security auftauchte.“
Wir verlassen die Basilika und lassen uns vom Licht draußen blenden. Es ist angenehm warm und im Gegensatz zu heute Morgen schwitzen wir nun in unseren Klamotten. Also pilgern wir zum Arkadengang vor der Basilika und lassen uns auf einer Bank nieder. Von hier aus beobachten wir eine lachende Schar Nonnen, die mit ihren Smartphone zu Selfies posieren, die hin und her eilenden Besucher und die weiter oben postierten Soldaten, deren Anwesenheit mir leichte Kopfschmerzen bereitet. Wo Sicherheitskräfte sind, gibt es vermutlich auch gute Gründe dafür. Die „guten Gründe“ sind es, die mich leicht stutzen lassen.
„Auch Nonnen sind und bleiben einfach nur ein Haufen schnatternder Weiber.“ Sage ich mit einem Kopfnicken in Richtung der Mädels, die noch immer lachend ihre Bilder machen. Ich drehe mich weg in Richtung der Mauer in unserem Rücken. Durch die vergitterte Öffnung blitzt uns grün und blau ein Wahnsinnsausblick auf die umliegende Landschaft entgegen.
Später schleppe ich Stefan zum besagten Juwelier, den ich auf dem Weg hierher entdeckt habe. Es ist inzwischen sehr warm geworden und wir packen unsere Jacken in den Rucksack ein.
Der Juwelier
„Dieses Geschäft habe ich auch schon auf dem Weg zur Basilika gesehen.“ Sagt Stefan. „Ich dachte mir schon, dass der dir gefällt.“ Wir betreten den Laden und lassen uns beraten. Zum Schluss verlassen wir die Räume mit zwei Ringen, die die Segnung des heiligen Franziskus tragen und ein halbes Vermögen gekostet haben. Stefan packt das edle Etui in sein Rucksack. „Ihr seid so ein tolles Paar.“ Sagt die Verkäuferin.
Wieder draußen in der Stadt. „Vorsicht!“ Sage ich zu Stefan. „Nicht deinen Rucksack aus den Augen lassen, er ist jetzt viel wert!“ Er hingegen tut so, als wollte er mit dem Schmuck abhauen. In einem Café bei leckerem Dessert holen wir nochmal das Etui raus. Das Papier in der Schachtel glitzert in der Sonne.
Das Papier glitzert in der Sonne..!
Die Kirche Maria Maggiore
Wir haben noch zwei Stunden Zeit, bis uns der nächste Shuttlebus wieder von Assisi wegbringt. Wie vertreibt man sich die am besten? Man schaut sich eine weitere Kirche an.
Sie wirkt unscheinbar und irgendwie kahl, als hätte man sie ihrer Schätze beraubt. Nie hätten wir uns träumen lassen, dass diese kleine Kirche am unteren Ende der Stadt bis 1039 die Kathedrale der Stadt Assisi gewesen ist. Außen und innen sehr schlicht gehalten, trägt sie nur die vertikalen Rosenen und die Rosette als Schmuck. Die Kirche wurde auf den Überresten eines römischen Tempels errichtet, die Krypta stammt noch von einer Vorgängerkirche. Somit ist sie eine der ältesten Bauwerke in Assisi. Sie trägt etwas Besonderes in sich, trotz, oder vielleicht wegen des Fehlens jeglicher Schmuckelemente. Das nüchterne Gestein schärft den Blick für das Wesentliche. Unsere Schritte hallen unverhältnismäßig laut auf dem Steinboden und jeder Atemzug ist zu hören. Die Bank knirscht, als wir uns setzen.
Ein kleiner Rundgang
Doch so eine Kirche ist schnell besehen und so sitzen wir noch ein wenig draußen in der Sonne. Noch immer rund zwei Stunden. Ich beginne schnell, mich schrecklich zu langweilen. Schließlich überlasse ich Stefan seinem Schicksal und drehe noch eine Runde um die stillen Außenbezirke der Altstadt. Es ist Mittagszeit. Ungewöhnlich für uns, doch zur Siesta hin sind die Städte hierzulande ruhig, still und leer. Keine Menschenseele ist in der Mittagssonne zu sehen. Nur selten kommt mir ein Auto entgegen. Eine so plötzlich ausgestorbene Stadt.
Ich wandere eine steile Straße stets nach oben. Der Bürgersteig ist nur Zentimeter schmal, doch die entgegenkommenden Fahrzeuge haben mich im Blick. Radler schießen mit einem Affenzahn die Straße hinunter. Links und rechts die Häuser, ab und zu ziert eine Mosaik die Mauer. Reißt die Häuserreihe mal auf, so ist dazwischen ein Fragment der fleckig grünen Landschaft, des blauen Himmels zu sehen.
Oben, am Ende der Straße angekommen, entdecke ich das Museum von Assisi und eine weitere Kirche, die allen Anschein nach beim Erdbeben schwer beschädigt worden. Fragmente der alten Fresken sind in die neue, weiße Wand eingebettet. Nur eines der Seitenschiffe ist noch erhalten. Menschen sind in der Kirche, sie beten. Ich stehe lautlos da und mache mich unsichtbar.
Auf dem Rückweg
Als ich unten ankomme, will Stefan gerade los zum Busparkplatz. Auch hier warten wir noch ein Weilchen. Welche Lehre zieht daraus der werte Leser? Assisi ist schnell angeschaut. Auch wenn man spezielle Ziele hat, die man genauer ins Auge fassen möchte oder, wie in unserem Fall, auf Shoppingtour geht, so reicht auch dann ein Zeitrahmen von drei bis vier Stunden völlig aus. In diesem lässt sich die Stadt erschöpfend von allen Seiten betrachten. Falls man kein Kunsthistoriker ist. In dem Fall brauchst du Tage. Oder Wochen.
Ein Blick aufs Handy zeigt mir, dass meine Chefin angerufen hat. Ich stecke das Handy weg und sage nichts. Ruft der Chef im Urlaub an, steigt in der Regel der Puls und man fängt an, die Leichen in seinem Keller zu zählen. Habe ich auch vor der Reise an alles gedacht? Alles erledigt, den Bericht abgeschickt?
Ich rufe zurück, sobald wir am Campingplatz ankommen.
„Schon gut,“ sagt sie; „ich habe Sie aus Versehen angewählt. Genießen Sie Ihren Urlaub.“
Die Leichen im Keller lösen sich in Luft auf und ich verbringe den Rest des Abends damit, Fledermäuse zu fotografieren, die sich lautlos im Zickzack-Kurs um die alten Pinienbäume schwingen.
Schatz, wir haben den Papst verpasst
Rund eine Woche später, als wir schon zu Hause sind, ich auf der Couch und Stefan vor dem Computer sitzen, dreht sich dieser plötzlich zu mir um. „Weißt du was? Der Papst hat diese Woche Assisi besucht.“ Nein, ernsthaft? Ja, sagt mein Liebster; er war am 3 Oktober in der Basilika und hat das Grab des heiligen Franziskus besucht. Deshalb die verschärften Sicherheitsvorkehrungen, die uns vor Ort verstärkt aufgefallen sind.
Es war die erste Reise von Papst Franziskus seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Er feierte eine Messe in der Krypta und nur wenige waren zugelassen. Alles war den Berichten nach abgesperrt und die Reise des Papstes selbst als privat deklariert, aber hey…
„Wir haben ihn nur um wenige Tage verpasst…“