Die Menschen sitzen in Cafes und brunchen, trinken womöglich ihren ersten Kaffee. Ganz ruhig geht es zu, es ist noch nicht warm genug, die Sonne hat noch längst nicht ihre volle Kraft entwickelt. Die Stadt wirkt verschlafen, eben erst aus dem Traum erwacht.
Und diese entspannte, faule Frühsonntagsstimmung passt auch zu mir. Genauso unaufgeregt fühle ich mich heute, fast schon ein wenig schläfrig; deswegen ist diese Tour auch nicht so weit ausgefallen. Fast wäre ich an diesem schönen Sonntag Morgen ganz zu Hause geblieben, wenn ich nicht wüsste, ich würde es bereuen.
Es ist fast niemand unterwegs. Noch nicht. Erst elf Uhr, die Menschen frühstücken noch. Manche haben soeben ihre Häuser verlassen. Ich bin wohl die Einzige, die sich die Stadt anschauen will. Die neugierig und nur zu offensichtlich in jede Ecke späht, am plätschernden, glänzendem Wasser stehen bleibt und die Malereien an den Wänden bewundert. Die hier und da verstohlen ein Foto schießt. Diese geheimnisvollen, alten, ein wenig schon zerfallenen Ecken.
Am großen Marktplatz mit seinem Rathaus lockt der Cappuccino. Doch ich setze mich nicht in eines der Cafes; ich lasse mich im Vorbeigehen von dem Leuten beobachten. Ein Blumenladen hat geöffnet. All die bunten Stiefmütterchen. Bald wird es Zeit, die Balkone zu bepflanzen.
Die Menschen sprechen Französisch und Deutsch. Ich hatte Deutsche erwartet; und dennoch tröstet mich ein wenig der Gedanke, nicht die einzige zu sein, die sich heute hier eingefunden hat. Den Hopser über die Grenze getan hat, weil sie neugierig war. Und weil Weißembourg eine tolle Stadt ist.
Dann laufe ich weiter zur Wissembourger Kathedrale. Die Kathedrale St Peter und Paul ist ein größtenteils gotischer Bau. Sie stammt aus dem 14 Jahrhundert und ist die zweitgrößte Kirche im Elsass neben dem Straßburger Dom.
Von drinnen dringt Gesang nach draußen, der Gesang einer Messe. Irgendwie seltsam in dieser verträumten Atmosphäre. Und auch irgendwie passend. Die kleine Stadt fühlt sich so ländlich an, es riecht nach frischem Gebäck. ich höre das Krähen eines Hahnes und sogar von irgendwoher das gedämpfte Quieken eines Schweins. Oder eines Kindes, das schreit; das weiß man nicht so genau.
Interessant anzuschauen: das alte Haus mit dem seltsam gewellten Dach, das aussieht, als würde die Konstruktion in sich zusammen sacken. Es ist das Maison du sel, oder Salzhaus, wie wir schlicht sagen würden 😉 Es wurde bereits 1450 erbaut und diente damals als Krankenhaus, dann als Lazarett, als Schlachthaus (harr harr haarr…) und schlussendlich wurde dort Salz gelagert (um das Fleisch zu pöckeln…? Oh, ich liebe schwarzen Humor…). Heute wird das Haus bewohnt.
Die Sonne macht mich schläfrig. Das Zentrum Wissembourgs ist schnell durchlaufen. Gerade einmal eine Stunde Fahrt von Mannheim entfernt, und doch schon ganz anders. Das Elsässer Fachwerk hat deutliche Unterschiede zu unserem vor Ort, zumindest mal, was die Optik anbelangt. Und auch so: ich liebe Grenzgebiete. Die Grenzübergänge der EU sind zwischen Deutschland und Frankreich oft komplett unspektakulär, auch heute Morgen zeigte nur das eine, blaue Schild an, dass ich gerade ein anderes EU-Land betrete.
Doch hinter diesen Schild befindet sich Frankreich. Grenzgebiete sind spannend. Denn man betritt keine komplett neue Welt. Nein, die Unterschiede sind gering, oftmals minimal, doch trotzdem, oder vielleicht deswegen, nimmt man sie sofort wahr. Es sind Feinheiten wie die Sprache oder die Schriftzüge an den Häusern, man wird nicht sofort von etwas völlig neuem erschlagen. Es ist vielmehr wie Puzzleteile suchen. Wo hört Deutschland auf und wo fängt Wissembourg an? Was macht den Unterschied?
Wissembourg (oder Weißenburg), wird im 7 Jahrhundert als Benediktinerkloster gegründet, ist lange Zeit die reichste Abtei im Elsass und wird schon bald zum Fürstertum erhoben. Nach einigen Kriegen und Aufständen im 16 Jahrhundert schrumpft die Bevölkerungsanzahl der Stadt wieder auf 140 Menschen zusammen.
1648 wurde Wissembourg, wie auch das restliche Elsass, von Frankreich annektiert, doch im Laufe der Jahre wechselte die Stadt noch häufig ihre Zugehörigkeit, bis sie im Jahre 1945 endgültig zurück an Frankreich geht. Vor und während des Zweiten Weltkrieges gab es Provokationen seitens der Deutschen. So wurde das Deutsche Weintor, damals offiziell das „Tor der deutsch-französischen Freundschaft“ genannt, mit einem großen, dicken Schriftzug versehen, der von Wissembourg aus gut zu sehen war: „Der Wein ist wahr – das Gelöbnis echt: Hier stehen Deutsche und nichts als Deutsche – im Westen die Feldwache der Nation.“ Garniert wurde das Ganze mit einer mit einer riesigen, gut sichtbaren Hackenkreuz-Fahne.
Maginot-Linie:
Was ist die Maginot-Linie? Um diesen Begriff stolpere ich, als ich mich in die reichhaltige Geschichte der Stadt hineinlese. Es handelt sich hierbei um ein Verteidigungssystem aus Bunkern, quasi eine Verteidigungslinie an der Grenze zu Deutschland, Belgien, Luxemburg und Italien, benannt nach Andre Maginot, einem französischen Verteidigunsminister. Die Bunkerlinie wurde 1930-1940 errichtet und kann heute besichtig werden. Die meisten sprechen von „Maginot Linie“ allerdings nur, wenn sie die Grenze zu Deutschland im Blick meinen; die Verteidigungsbunker zu Italien werden beispielsweise wiederum als Alpin-Linie bezeichnet.
Ich wechsel die Straßenseite, umrunde die Kirche und stehe dann vor einem verlassenen Seitenkreuzgang. Der Kreuzgang ist anders als der Rest; in der Decke sind hauptsächlich Holzbalken verarbeitet. Darf man da rein?
Der Kreuzgang ist offen.
Der Kreuzgang ist ein übrig gebliebener Teil des mittelalterlichen Klosters Weißenburg. Er wurde nie wirklich fertig gestellt, denn eigentlich sollten wohl die Balken nach und nach durch ein steinernes Gerüst ersetzt werden; das schnappe ich bei einer deutschen Reisegruppe auf, die sich nun an mir vorbei schiebt. Bereits vor der Kirche hatte ich vereinzelt deutsche Besucher gesehen, die ihre Kameras zückten. Naiv, zu glauben, ich sei die einzige gewesen.
Immer wieder „läuft“ mir ein schönes Motiv vor die Linse. Es sind die Häuser, diese unaufgeregten, kleinen Häuser, die nicht dazu da sind, mir ein Fotoobjekt zu bieten, sondern von Menschen bewohnt werden; von richtigen Menschen. Nichts hier an dieser kleinen Grenzstadt ist eine tote Kulisse. Die Rolläden sind unten, die Bewohner schlafen wohl noch. Ein altes Ehepaar steht in seinem Garten.
Hinter der Kirche geht es raus auf die Weinberge. Ein junges Pärchen läuft an mir vorbei, er mit zwei Baguettes, die aus seinem Rucksack ragen. Der Klischee-Klassiker, bin ich schon versucht zu denken, doch dann sehe ich, dass die beiden einen Stadtplan in der Hand haben, ergo sind sie nicht von hier. Vermutlich auch deutsche Besucher auf Sightseeing-Tour.
Häuser spiegeln sich im glattem Wasser. Ein schmaler Weg führt ab von der Stadt und zur Stadtmauer. Die Mauerreste sind leider nur in Teilen erhalten, doch hier beeindruckt mich die schiere Dicke. Es gehen mir so viele Fragen durch den Kopf, Fragen, denen ich später noch nachgehen werde. Wie hat sich die Stadt gegen deutsche Besatzung gewehrt? War sie oft Ziel eines Angriffs? War sie strategisch wichtig? Wie sah es im Laufe der Jahrhunderte aus? Ich will mehr wissen als die dürftigen Informationen, die ich auf die Schnelle finden kann.
Kleine Eidechsen flitzen über die aufgewärmten Steine und ein Schwarm wilder Bienen macht sich auf einem Flecken Erde zu schaffen.
Es ist warm und immer wärmer, die Sonne scheint mir auf den Kopf. Von hier aus kann ich auf die Stadt schauen. Oben auf einer Anhöhe gibt es Bänke und einen Spaziergängerweg. Die Türme der Kathedrale ragen zwischen den Bäumen empor. Eine Bank weiter, in einiger Entfernung von mir, sitzt ein Pärchen mittleren Alters. Als ich irgendwann wieder hinsehe, ist sie ihm auf den Schoss gesprungen und knutscht ihn ab. Franzosen halt… 😉
Dann ist auch diese Bank leer und ich sitze immer noch da. Es ist erst Mittag und schon überlege ich, wieder nach Hause zu fahren. Die allgemeine Lustlosigkeit hat mich ergriffen. Ein kleiner Singvogel hüpft neben mir umher; immer wieder lässt er einen mächtigen Gesang aus kleiner Kehle ertönen. Und ich wage es nicht, zu atmen.
Unter mir ist die Stadt inzwischen voller geworden. Recht viele Spaziergänger mit Kamera sind jetzt unterwegs. Die Weinstraße der Vogesen ist auch ein beliebtes Motorradziel. Für mich ist die Zeit nun abgelaufen; wie Aschenbrödel räume ich langsam und durch die Hintertür das Feld. Die Stadt lebt jetzt, sie ist aus ihrer Trance erwacht und, ach… die Konditoreien haben geöffnet. Wissembourg ist, wie ganz Elsass eigentlich, ein kleiner, kulinarischer Garten Eden. Diese kleinen Küchlein hatte ich schon in Paris gegessen, sie sind kleine, leckere Kunststücke, zum Verzehren eigentlich viel zu schade. „Man würde am liebsten reinbeißen.“ Sagt ein Mann neben mir, der ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass ich Deutsche bin. Ich nicke. Dann drücken wir uns beide noch einen Moment lang die Nasen an der Scheibe platt.
Mit einem Schokomousse-Himbeercremezauber in einer schicken Verpackung und einem zufriedenen Kleinkindsgesicht spaziere ich Augenblicke später aus der Konditorei.
Weißenburg ist ein schönes Städtchen. Früher konnte man in Frankreich günstig tanken und einkaufen. Das ist leider vorbei.
Weißenburg ist gut mit Deutschland vernetzt, denn es gibt auch Zugverbindungen mit Dörfern auf der deutschen Seite.
Es gibt auch eine schöne Wanderung die von Schweigen am Deutschen Weintor durch die Weinberge nach Weißenburg führt.
Liebe Grüße
Harald
Die Wanderung hat mich jetzt neugierig gemacht. Weißenburg ist schön, wir waren bereits zweimal dort. Wie heißt die Wanderung? Ist es ein Rundweg?
Liebe Grüße
Kasia
Scheint ein nettes Städtchen zu sein ! Hier sehen die Fotos schon mal viel freundlicher aus als die wo ich gerade von Dänemark gesehen habe. Ja die Sonne scheint und das ist schon mal die halbe Miete !!!
Maginotlinie ja da schreibst du was. Ich habe schon die berühmte und größte FEstung „schoenenbourg “ besucht ! Gewaltung was da errichtet wurde. Das hat mich brennend interessiert !!! Problem war, alles in französich erklärt und da bin ich verloren !!
Französisch ist auch nicht meins, glücklicherweise sprechen die Menschen in den Grenzgebieten meistens deutsch… sonst wäre ich auch aufgeschmissen 🙂 Ich denke, das liegt am Wetter, aber dieses nordische (Stichwort Dänemark) finde ich an sich ungeheuer spannend 🙂 Elsass ist auch sehr schön, aber am Fachwerk habe ich mich sattgesehen, das hast du ja im Süden überall…