Edersee, Ende Juli 2017
Vorsorglich prüfe ich den Wasserstand im Edersee. Ein wenig Sorgen bereiten mir die üppigen Regenfälle der letzten fünf Tage, tauchen doch die Ruinen nur bei Niedrigwasser aus den Tiefen der Seefluten auf. Doch meine Bedenken sind unbegründet, denn das Wasser steht noch niedriger als zu Beginn, als am 10 Juli bei 226 m die Überreste alter Dörfer aus den Fluten auftauchten und im Internet ein Aufschrei durch die Reihen der Kuriositätenjäger ging.
Die Tiefen des Edersees in Nordhessen verbergen nämlich eine faszinierende Sehenswürdigkeit, die nur einmal im Jahr im Spätsommer unter bestimmten Voraussetzungen an der Oberfläche erscheint: Es sind die Überreste der Dörfer, die vor über hundert Jahren vor dem Bau der Eder Talsperre abgetragen und anschließend geflutet wurden.
Entgegen dem, was meine reißerische Überschrift vermuten lässt (an dieser Stelle ein kleines, nicht ganz ernst gemeintes Sorry an meine Leser), handelt es sich nicht um eines, sondern um die Reste mehrerer Siedlungen, die sich, nun unter neuen Namen, rund um den Edersee erstrecken. Und auch an der Entstehungsgeschichte von „Edersee Atlantis“, wie diese im hochtrabenden Stil benannt wurden, gibt es weitestgehend nichts Geheimnisvolles: Keines der Dörfer ist Gottlob gewaltsam zerstört worden und es sind auch keine Menschen zu Schaden gekommen.
Was ist also so faszinierend an dieser ganzen Geschichte? Vielleicht ist es die Gewissheit, dass hier etwas dem Auge Verborgenes schlummert oder die Tatsache, dass die Reste alter Häuser limitiert, nur zu bestimmten Zeiten, zu sehen sind, die die Menschen in Spätsommer in Scharen in die Region reisen lässt.
Rund um den See schlängelt sich eine kurvige Straße lang, die größtenteils auf fünfzig km/h Geschwindigkeit begrenzt ist, um den Rasern das Handwerk zu legen (und wohl auch den Motorradfahrern, denn in der Nähe der Eder Talsperre befindet sich eines der bekanntesten Bikertreffs des Landes). Ich bleibe zunächst an der Sperrmauer stehen und schaue auf die schimmernde Oberfläche des Sees hinunter. Hier gibt es nichts zu holen, und so steige ich bereits nach kurzer Zeit wieder in den Wagen und mache mich auf zu einem der Orte, die auf meiner Karte eingezeichnet sind. Ich bin voller Rastlosigkeit und Kribbeln im Bauch, möchte los, sofort hin, ganz so als befürchte ich, dass mir meine Ruinen plötzlich Füße bekommen und auf selbigen weghüpfen könnten.
Die versunkenen und nun sichtbaren Ruinen befinden sich logischerweise nicht nur an einer Stelle; rund um den See gibt es mehrere gut beschriebene, sehenswerte Spots. Praktisch ist an dieser Stelle die Karte, die auf der Website des Edersees zur Verfügung gestellt wird; dort sind die Ruinen rund um den See benannt und eingezeichnet und eine Tabelle zeigt an, welcher Spot ab welchem Wasserstand an die Oberfläche taucht.
Ich habe nicht so viel Zeit wie ich gerne möchte, denn ich hatte den Abstecher auf dem Weg von Hannover nach Hause in Angriff genommen; alles werde ich also nicht anschauen können. So entscheide ich mich für das Dorf Alt-Bringhausen, welches nun unter dem Namen Neu- Bringhausen etwas weiter am Ufer hochgezogen wurde. Dort gibt es die Reste der Grundmauern und des alten Friedhofs zu sehen.
Am entsprechenden Parkplatz angekommen wandere ich die Böschung hinunter. Das Ufer steigt steil ab und jede Menge kleiner und großer Schiefersteine liegen zwischen den aufkeimenden Pflanzen verstreut. Ich schaue mich um. Weitestgehend bin ich alleine hier, nur ein paar Angler sind hier und da in der Tiefe am sich zurückziehendem Wasser sitzend zu sehen. So trabe ich also los, erfreut, dass ich nach Belieben Entdecker spielen kann. In der Ferne sehe ich große, rechteckige Gebilde, in denen sich kleinere, rechteckige Gebilde befinden. Das muss der Friedhof sein.
Ich laufe der untergehenden Sonne entgegen, die die Hänge erleuchtet und die Felsen auf der anderen Uferseite warm leuchten lässt, im Widerspruch zu dem schwer bewölkten, bleifarbenem Himmel über mir, in dem nur hier und da, wenn überhaupt, ein paar blaue Stellen leuchten. Wende ich den Blick zurück, erscheint das Wasser des Edersees inmitten der leuchtenden, sandigen, stellenweise saftig Grünen Hänge anthrazitfarben, beinahe schwarz.
Das steile Ufer erfordert zwar nicht gerade Kletterkünste, jedoch ist es mehr ein vorsichtiges Ein-Fuß-vor-den-anderen-setzen denn ein lockerer Spaziergang, und so ist mein Blick vorwiegend nach unten gerichtet.
Und das ist gefährlich. Denn ich sehe… Steine. Viele Steine.
An dieser Stelle muss ich bekennen, dass ich ein krankhaft besessener Steinesammler bin – ohne Aussichten auf Heilung. Ich finde Steine toll. Große, kleine, bunte, graue, die, die bläulich schimmern oder deren Oberfläche besondere Farbeinschlüsse aufweist. Ich liebe Steine, die ausgesuchte geometrische Formen haben und ich liebe Steine, die, gerade erst zerbröselt, ihr Innerstes zu Schau stellen. Und spätestens bei einem weiteren Umzug verfluche ich selbige Sammelleidenschaft und verstreue reumütig alle Urlaubsmitbringsel in meinem Garten herum, um sie nicht mit in die Kisten packen zu müssen. Und so werde ich auch jetzt langsamer und packe mir die Taschen mit Steinen voll, als wäre mein Kofferraum nicht bereits voll genug.
Doch je weiter ich komme, umso mehr verändert sich der Grund unter mir. Plötzlich stehe ich nicht mehr inmitten von zerbröselten Felsen; der Boden ist weitestgehend glatt, nur hier und da sind größere Steinbrocken zu sehen. Kleine Ziegelstücke zeugen davon, dass hier mal Häuser gestanden haben.
So komme ich irgendwann an den Überresten des alten Friedhofs an, die blank gespült aus dem Schlamm des Sees ragen. Vermutlich wäre es zu kostspielig gewesen, auch noch den Friedhof mit in das neue Dorf zu übertragen, und überhaupt: Platz den Lebenden, nicht den Toten… so wurden die Gräber mit schweren Steinplatten versiegelt, um zu verhindern, dass da irgendwann nach Jahren plötzlich die Großtante an der Oberfläche treibt. Ich laufe um die Grabplatten herum und beobachte, wie ich von zwei Anglern aus der Ferne beobachtet werde, die unbewegt wie Statuen links und rechts ihres Bootes stehen.
Rechts, seitlich des kleinen Friedhofs, liegt eine Reihe Steine, die sich in einer geraden Linie bis hin zum See entlang zieht. Ich vermute hier die Reste der Friedhofsmauer. Etwas weiter unten kann ich genau den ehemaligen Kiesweg erkennen, damals wohl von Schatten spendenden Bäumen gesäumt, dessen Stümpfe in einer exakt geschwungenen Linie diesen Kiesweg begleiten. Hier spazierten sie damals entlang.
Vor mir befindet sich eine Anlegerstelle, die etwas aberwitzig mitten auf dem Trockenen liegt, der leuchtend rote Rettungsring deplatziert an der Seite hängend. Eine felsige Insel erhebt sich… nein, nicht mehr aus dem Wasser, vielmehr aus dem Schlamm, und weckt meine Neugier. Oben behaupten einsame zwei Bäume seit Jahren ihr Dasein, die Wurzeln wie Schlingen um und in den Fels gebohrt. Bei hohem Wasserstand sind sie und die Spitze des Felsens vermutlich das Einzige, das über dem Wasser zu sehen ist. So tappe ich über den Matsch hinüber zu der kleinen, aufragenden Insel.
Die Landpflanzen haben den sandigen, matschigen Grund des Sees in Rekordzeit erobert; klein, grün und wacker bedecken sie die gesamte, frei liegende Fläche mit ihrer Art. Es gilt, keine Zeit zu verlieren, zu wachsen und sich zu vermehren, bevor sich das Wasser ihre Gebiete zurückholt. Etwas weiter am Ufer ist ein Zeltplatz zu sehen. Ein älteres Pärchen steigt kichernd von der Insel herunter, auf die ich gerade zusteuere, und verschwindet in Richtung der Wohnwägen.
Die Seeinsel birgt die Reste einer Mauer, die sie vor langer Zeit umrundet zu haben scheint. Was war denn früher dort? Nun führt eine enge Treppe bis nach oben, dann ein kleiner Pfad zwischen den wenigen Bäumen auf die andere Seite. Von hier oben sehe ich jetzt genau die Grundrisse der Häuser, die dort unten gestanden haben müssen und von denen nur noch die Fundamente übrig sind. Hier, an dieser Stelle stand das Dorf. Ich spähe umher auf der Suchen nach weiteren Spuren vom damaligen Leben. Auf der anderen Seite wird nun von oben der Blick auf den Friedhof frei, und auf den steilen Hang, den ich bis hierher gegangen bin. Der See liegt unter mir und wechselt im Minutentakt seine Farbe. Silbrig-grau, in Ufernähe hell, weiß da, wo sich die Sonne in den gekräuselten Wellen spiegelt.
Jetzt ist Zeit für ein Zigarillo.
Eine unendliche Ruhe ist hier oben, eine Stille, die ich nach den lebhaften letzten Tagen schmerzlich vermisste. Ein Segelschiff gleitet langsam und ohne Eile auf dem Wasser entlang, einer… nein, zwei Reiher fliegen schwerfällig und tief über der Wasserfläche. Am anderen Ufer; ein paar Menschen, bewegliche, dunkle Striche auf sandigem Fels. Musik kommt dumpf und fern zu mir herüber geschwappt. Unten glitzern im Matsch die Fußspuren von Spaziergängern wie lange Fäden, die sich langsam wieder mit Wasser füllen. Nur die ferne Straße ist noch als ein feines Rauschen zu hören. Ein sportlich Fahrender PKW lässt in der Kurven vernehmlich seine Reifen quietschen.
Neben mir im Gebüsch spring ein kleines Vögelchen von Ast zu Ast, wiegt sich in Sicherheit und in der Gewissheit, dass ich ihm sowieso nichts anhaben kann. Die Sonne kommt raus und lässt das saftig grüne Ufer und das sanfte Ockergelb der Felsen erstrahlen; das kleine Segelboot leuchtet in strahlendem Weiß auf. Eine Gruppe Enten zieht synchron Kreise, bevor sie sich einheitlich auf dem Wasser niederlässt: Wie ein Tanz sieht das aus.
Ich lasse mir Gedanken durch den Kopf gehen, doch die Rastlosigkeit ist weg. Ich habe gesehen, was ich sehen wollte, und obgleich es nicht alles war, fühle ich mich trotzdem seltsam zufrieden. Ein zweites Zigarillo muss dran glauben: Es dauert noch eine ganze Weile, bis ich mich endlich von meiner Festung erhebe und tapsend den Weg durch den Matsch zum Auto antrete. Es gäbe noch so viel mehr zu sehen, doch für heute bin ich fertig. Die Reste der alten Dörfer warten den nächsten Sommer wieder auf mich…
Tipp: Diese Tabelle finde ich ganz praktisch; Du siehst die jeweiligen Stationen und ab welchem Wasserstand sie zu sehen sind.