Motorradtour Bayern/Österreich, Juni 2017
Mit Zeitplänen ist es immer so eine Sache, dass sie nur selten exakt eingehalten werden können. Speziell bei uns und speziell, wenn wir mit dem Bike unterwegs sind, verkalkulieren wir uns oft gewaltig. Denn immer gibt es unterwegs etwas zu sehen, etwas zu entdecken – Gründe, anzuhalten gibt es tausende. Wozu sonst überhaupt losfahren, wenn man ja doch nur an allem, was interessant ist, nur vorbei rasen soll? – Argumentiere ich dann dagegen. Und obwohl mir Stefan meine Vernarrtheit in die kleinen, schönen Dinge, die uns so sehr aufhalten, oft nachsieht, so ist sie mit ein Grund, weshalb wir meist erst am Tagesende am Ziel unserer Tour ankommen.
So ist es auch diesmal, als wir gegen späten Nachmittag den tiefgrünen, hoch frequentierten Hintersee erreichen. Wir folgen einer Straße, die immer kurviger und immer enger wird und versuchen, nicht auf der Motorhaube des Gegenverkehrs zu landen, der uns in ansehnlicher Zahl entgegen kommt. Und dann sind wir da, der Blick auf den Bootshafen eröffnet sich. Stefan hat nicht zu viel versprochen; die Farbe des Wassers macht mich sofort sprachlos.
So hochfrequentiert wie der See sind auch die Parkplätze, und so stellen wir uns zunächst einmal an einem kleinen Cafe auf der anderen Seite des Schotterweges hin. Die Dame des Hauses legt ein eher mürrisches Dasein an den Tag, doch vermute ich dahinter eine herbe Herzlichkeit. Und ich werde nicht enttäuscht, denn auf meine Nachfrage hin gestattet sie uns, zwar immer noch nicht wirklich lächelnd, doch um einiges freundlicher als zuvor, die Bikes etwas länger auf dem hauseigenem Parkplatz zu belassen. „So lange ihr wollt.“ Sagt sie. So bewegen wir unsere müden Körper (so eine lange Fahrt hat es in sich…) zu einer hölzernen Bank in Richtung Wasser.
Inzwischen verbirgt sich die sinkende Sonne hinter den hohen Bergkämmen, eine erfrischende Kühle bemächtigt sich des Seeufers. Ich bemächtige mich der Fleedjacke, die ich vorsorglich im Tankrucksack mitgenommen habe. Warm eingepackt schaue ich Stefan beim Frieren zu.
Ihren Höhepunkt erreicht die Sissi-Romantik in einem der traditionellen Lokale an der Uferpromenade des Hintersees, in welches uns der Hunger treibt. Sie entlädt sich in einer schmerzhaften Orgie aus Volksmusik, die uns aus den Lautsprechern um die Ohren dudelt. Stefan verschwindet auf der Toilette; indessen übe ich mich in Ruhe, Nachsicht und Toleranz. Immerhin: Das ältere Pärchen am Nebentisch scheint die gebotene Folklore zu genießen, denn als der Kellner die Botschaft von einem freigewordenen Tisch draußen am See verkündet, schütteln sie nur die Köpfe: „Nein, schon gut, uns ist es egal.“ Nun, mir ist es aber nicht egal, und so begebe ich mich fröhlich hüpfend nach draußen.
Und während unser Essen kommt, wird es draußen noch kühler; die Sonne ist einzig durch die leuchtenden, hellen Bergspitzen zu erahnen. Die Dämmerung bricht herein und ich weiß bereits jetzt, dass wir heute sehr spät ins Hotel zurückkommen werden.
Es ist einer dieser schönen Sommerabende, wie dazu gemacht, ihn draußen zu verbringen. Die Bergspitzen sind getaucht in dieses ganz spezielle, goldene Licht; Menschen begegnen einander auf dem Gehweg, ungeachtet der kühlen Temperaturen in kurze Hosen und Röcke gekleidet.
Ein Traktor zieht auf dem Feld seine Runden.
Eine Katze lauert im hohen Gras auf einer Anhöhe, versteckt sich und glaubt, man sehe sie nicht.
Ein Pferd dreht sich um und trabt zurück in den Stall. Einen Ort weiter geht eine andere Katze auf die Pirsch, sie spitzt ihre Ohren und duckt sich; im Licht der tiefstehenden Sonne fixieren ihre Augen etwas, das nur sie selbst sieht.
Die Gipfel der Berge erscheinen, obwohl lichtdurchflutet, wie in einen leichten Nebel getaucht, sie wirken wie Erscheinungen; wie Geschöpfe aus einer anderen Welt. Auf einem höher gelegenen Parkplatz bleiben wir stehen und bestaunen still dieses einmalige Bergpanorama.
Und wieder einmal erlebe ich die Enttäuschung eines Fotografen, der die Perfektion einzufangen sucht und daran scheitert; denn weder lässt sich der gesamte Bergkamm auf ein einziges Bild bannen noch kann ich die Stimmung so einfangen und festhalten wie ich sie mit meinen eigenen Augen sehe. Dieser Anblick hat etwas wundervolles, erhabenes, kaum festzuhalten, kaum greifbar. Doch auf den Bildern sind es eben… Berge. Scheinbar dasselbe, und doch meilenweit vom Erlebten entfernt.
An der Raststätte Chiemsee machen wir noch ein letztes Mal Halt, während die Sonne dabei ist, ins tiefrote Wasser zu fallen. Sie taucht dabei die Berggipfel in blutrotes Licht. Diese scheinbar ewig dauernden Sonnenuntergänge unseres Breitengrades lassen mich an Bonaire denken und daran, wie rasant die karibische Sonne den Horizont passierte. Die Raststätte Chiemsee macht ihrem Namen alle Ehre, denn, direkt am Ufer des Sees gelegen, fällt man beinahe ins Wasser, sobald man auf dem Parkplatz die Autotür öffnet. Nur eine Leitplanke, auf die ich mich jetzt setze, trennt uns vom kühlen Nass.
Die Sache mit den Sonnenuntergängen hat sich herumgesprochen; Stoßstangen-Kuscheln ist angesagt. Alle wollen ein Stück der Instant-Romantik mit nach Hause nehmen, eher sie wieder los – und weiter fahren. So wie wir. An der Leitplanke stehen wir da und bestaunen den Abschluss unserer heutigen Tour. Doch die echte Krönung – die Krönung waren die Berge. Ich schaue nochmal zu den Berggipfeln hoch – der goldene Glanz ist erloschen. Am fahl werdenden Himmel zeichnen sich die Umrisse der Berge ab – die perfekte Harmonie.
Draußen auf dem Balkon. Die schweren Stiefel ausgezogen und die Beine von uns gestreckt genießen wir die nächtliche Stille, selbst zu keiner Regung mehr fähig. Nur das Zirpen der Zikaden lässt sich in der Dämmerung vernehmen, ansonsten ist alles ruhig. Das Pärchen auf dem Balkon neben uns, welches lacht und flüstert; wir könne sie nicht sehen, doch wir wissen, dass sie da sind. Das kühle Bier in der Hand macht mein Hirn noch matschiger als es schon ist. Es war eine lange Fahrt – eine verdammt lange Fahrt – aber doch war es schön.
Der Mond ist nur als eine feine, rote Sichel zu sehen, die langsam, aber unweigerlich in den Horizont versinkt. Ein Flugzeug zieht vorbei, lautlos, nur als stetig blinkendes Licht am Himmel zu sehen. Ich ziehe die kalte, klare Bergluft tief in meine Lungen ein. Ich bin keines Gedanken mehr fähig.