November, 2021
Während sich Stefan auf einer sonnigen Bank ausruht und seinen Bart wie ein Kater das Fell gen Wärme streckt, treibt es mich schon wieder weiter. Das üppige Hotelfrühstück will verarbeitet werden und gefühlt tun wir nichts anderes als stehen oder sitzen.
Kurz traue ich mich in einen opulenten Laden mit Böhmischem Glas hinein, doch als die Verkaufsdame beginnt, mir auf tschechisch die neuesten Weihnachtsschmuck-Kreationen anzupreisen, flüchte ich nach einem Abschiedsgruß schnell wieder nach draußen. Weder verstehe ich tschechisch (gut, dafür kann sie nichts…) noch habe ich Interesse an Weihnachtskugeln. Es ist erst November, Hergott nochmal!
Ich treibe Stefan von der Bank runter und wir erkunden die Außenbezirke der Altstadt. Diese sind allerdings in einem leicht desolatem Zustand. Innen hui, außen pfui, könnte man auch sagen. Oder, für die romantisch veranlagten unter uns: für morbide Atmosphäre und Lost Places ist gesorgt. Was Stefan wiederum begeistert.
Anders jedoch die Balkone, die an einem seidenen Faden über unseren Köpfen zu hängen scheinen. Brüchig sehen sie aus, wie sie an den von Putz bröckelnden Häusern hängen mit ihrem sich zersetzendem Beton und den Eisenstangen, von denen sich Rost löst. Wenn du dich auf so einem Balkon stellst, bist du schnell samt Balkon wieder unten. Wir ziehen instinktiv die Köpfe ein und versuchen, so weit wie möglich an der Außenkante entlang zu laufen. „Warum ist die ganze Straße nicht gesperrt?“ Ärgert sich mein Freund. Na, weil wir hier nicht in Deutschland sind, denke ich mir – wo alles seine Ordnung hat und den Menschen ihre Mündigkeit und Eigenverantwortung auf Schritt und Tritt abgenommen wird.
Der Weg aus dem Stadtzentrum führt uns zugleich in einen der umliegenden Wälder, wo sich verschiedene Wanderrouten kreuzen. Eine alte Mühle lässt grüßen, die früher einmal eine Pension beherbergte. Die baufälligen Brücken, die über wasserplätschernde Bäche führen, sind abgesperrt, doch auch so wären sie nicht begehbar. Ein überdachter Mineralbrunnen, wo zugleich Palmen in Tontöpfen überwintert werden, lädt auf einen nach Eisen schmeckenden, gesunden Schluck ein.
Stefan wählt zum Wandern die Goethe-Route. Sie führt durch den geologischen Park; soweit ich weiß, dem größten in Tschechien. Ausgestellte, halbierte und glattpolierte Steinbrocken aus Pyrit und Granit zeigen verschiedene Strukturen. Grüne Einschlüsse, rote Sprenkel, Streifen und Spuren davon, wie vor Jahrmillionen in diesem vulkanisch aktivem Gebiet das Material unter Druck verdichtet und zu Gestein gepresst; wie sich der Boden anhob und Schicht für Schicht wie ein Blätterteig gefaltet wurde.
Rote und braune Blätter rascheln um uns herum, glühen golden im Licht, lassen die Sonne mit ihnen spielen. Das Laub riecht trocken, warm nussig. Nach Herbst. Und der kleinste Windhauch lässt Blätter fallen, von ganz oben herab auf uns zu, so dass es aussieht, als würde das Laub in Bataillonen durch den Wald wandern. Scharen von Blättern umgeben uns wie tanzende Soldaten. Und dann – nichts mehr. Stille.
Von weitem hören wir wieder die Singende Fontäne. Es ist ein Uhr.
Der symbolische Friedhof von Marienbad
Wir entdecken auf unserem Weg den symbolischen Friedhof von Marienbad, wo die natürlich vorkommenden Granitblöcke dazu genutzt wurden, der im 1 Weltkrieg gefallenen Soldaten einen Namen und ein Andenken zu geben. Der Friedhof wurde 1932-1933 angelegt; der gefallen Bürger von Marienbad sollte so gedacht werden. Jeder dieser Steine trägt eine Plakette mit Namen und Todesdatum und fügt sich als Ganzes in die moosgrüne, waldfriedliche Umgebung. Wieder fallen Blätter. Es fallen auch Menschen. Rund 150 Steine bedecken den Boden. Der sog. „Heldenhain“ wurde unter der Leitung von Baumeister Ignatz König und Garteninspektor Hans Wimmer errichtet.
Nahe der Anlage entdecken wir ein… na, nennen wir es mal: Felsenmeer von Marienbad. Die sichtbaren, runden, mit Grün überwucherten Steine sind kleiner als die Blöcke beim Odenwälder Lautertal, und es klettert auch niemand wie wild auf ihnen herum. Aus dem Weg, hier komme ich! Stein für Stein steige ich höher, einzig weil ich wissen will, ob das geht. Indessen wartet Stefan geduldig auf einer Bank auf mich. Bis ganz nach oben schaffe ich es freilich nicht. Dafür werden die Steine jedes Frühjahr nach der Schneeschmelze um ein paar Zentimeter durch herabfließendes Wasser nach unten bewegt.
Die herbstliche Färbung des Laubes lässt mich immer wieder aufs Neue staunen. Irgendwann sind wir wieder in der Stadt. Da werden Katzen gestreichelt und baufällige Häuser bestaunt, die wie eine vergessene Filmkulisse anmuten. Stefan trinkt noch einen Cappuccino an der Hauptkolonnade, während ich mir an den wenigen, um einen kleinen Park angeordneten Weihnachtsbuden einem Trdelnik (habe die Dinger zum ersten Mal in Prag probiert, echt lecker) und ein Glühwein gönne. Leicht beschwipst zähle ich die Enten im Teich des Parks… ach nein, ich betrachte sie nur. Und erinnere mich an den Satz, dass der Enterich wohl eitel sein muss, da er stets einen Spiegel unter seinem Flügel trägt.
Der Park ist schön. Jetzt im Herbst noch schöner. Verträumte, steinerne Skulpturen schöner Mädchen harren der Unendlichkeit, während um sie herum die Jahreszeiten kommen und vergehen.
Stefan treffe ich irgendwann auf dem Weg zum Hotel wieder an. Wir schreiten zusammen dem Sonnenuntergang… was rede ich: dem Abendessen entgegen.
Wellness
Heute stehen die Zeichen auf Entspannung, auf Massage, Aromaöl, Bäder und zwölf Jahre alten Whisky…
Das von uns gebuchte Programm beinhaltet nämlich einiges davon, so wie eine Körpermassage, ein Aromaölbad und eine Ölmassage, ausgeführt von einer fachkundigen Masseurin, die mir alle Verspannungen aus dem Körper knetet. Das wohl ungewöhnlichste ist das Paraffinbad für die Hände; meine beiden Hände werden nacheinander in heißes, flüssiges Paraffin getaucht und in Handschuhe gesteckt. Dann liege ich entspannt auf einer Liege, das Paraffin härtet aus. Hm, auch wenn ich um die bedenkliche Wirkung von Erdölerzeugnissen weiß; es fühlt sich nicht unangenehm an (später lese ich in Google etwas über paraffininduzierte Hauttrockenheit und Faltenbildung nach).
Nach Ölen duftend verlassen wir die Wellnessräume und setzen uns unten an die Lobby. Es gibt Whisky, Eis und Kaffee: ich weiß nicht, ob in genau dieser Reihenfolge. Die dicke, flauschige Hauskatze, die auf meinen Schoß klettert und gestreichelt werden will, gibt es gratis dazu.
Nebliger Morgen
Der Regen verwandelt sich in ewigen Nebel, doch der Nebel lässt stellenweise so etwas wie Sonne durch. Ich mache einen großen Schritt, um nicht auf die erlegte Maus zu treten, die die dicke Katze gestern vor die Tür gelegt hat. Wer hätte gedacht, dass ein so korpulentes Tier noch Mäuse jagen kann; zurecht präsentierte sie am Abend stolz ihre Beute, ganz erstaunt über die Ignoranz der anderen, zweibeinigen Katzen.
Der Park, den wir auf dem Weg zum Hotel passierten, zieht sich bis an die Stadt. Weitläufig und leer, voller gefallener Blätter, goldener Bäume und schneeweißer Pavillons. Ich begebe mich auf einen langen, langen Spaziergang. Treffe dabei kaum Menschen an – die meisten sind zu dieser Zeit auf der Arbeit, nicht überall auf der Welt ist heute Feiertag. Es gibt nur mich und das sanfte Nebelgrau. Alte, historische Villen wollen ebenso entdeckt werden wie das Bier-Spa, welches ich leider nicht mehr nutzen werde, denn heute fahren wir wieder ab. Die ruhige, herbstliche, strahlend goldene Zeit ist zu Ende – die nächsten Tage werden im Folgenden nur noch in trübem Regen erstickt werden.
Ha! Dann lag ich ja doch nicht so ganz falsch mit meiner vorgefassten Meinung. Die erste Vorzeigereihe ist schick, dahinter wird es lostplacig mit morbidem Charme. Ich bin da auch zwiegespalten. Einerseits hat so ein Verfall seine ganz eigene Ästhetik. Andererseits ist es schade um die ehemals so schön herausgeputzten Gebäude. Die Parklandschaften im goldenen Herbstlaub sind wunderschön!
Vielleicht richtet sich alles nach dem aktuellen Bedarf des Menschen und das ist auch gut so. Es gab früher Verwendung für die tollen Gebäude und sie wurden instand gehalten. Heute werden die Ressourcen für die Lebenden benötigt, für die Anwohner oder sonstige Dinge. Und was zwar schön ist, aber keine Priorität hat, verfällt eben. Es gibt viele solche Orte, weniger bekannt und kleiner, die in dieser Gegend verfallen. Ich denke, das meiste wird man früher oder später abreisen und ein paar „Vorzeigeobjekte“, die die Vergangenheit konservieren sollen, lässt man stehen.
Ja, so wird das vermutlich ablaufen.
Die Wanderungen rund um Marienbad sind echt der Traum!
Und ich finde es wunderbar, dass man von überall aus der Stadt – eigentlich dem Städtchen – fast sofort im Grünen und in den Hügeln ist.
Der krasse Unterschied zwischen restaurierter Hauptstraße und Verfall schon eine Straße dahinter ist mir auch aufgefallen.
Aber ich mag ja so Ruinen…
Deshalb gefällt mir Marienbad auch besser als Karlsbad, wo überall renoviert und investiert wurde und alles zu sehr nach Oligarchengeld aussieht.
Karlsbad sieht, glaube ich, nicht nur nach Oligarchengeld AUS… 😉 Weiß nicht, ich finde es schade, wenn schöne Dinge einfach verfallen. Auch wenn der Prozess des Verfalls durchaus faszinierend ist.
Es gibt halt einfach zu viele von diesen Kurorten, v.a. seit die Krankenkassen so knausrig sind und kaum mehr Kuren finanzieren.
In der Nähe von Karlsbad gibt es einen Kurort (Kyselka), der überhaupt gar nicht mehr bewohnt ist:
https://andreas-moser.blog/2020/11/14/kyselka/
Kyselka ist ja wirklich von allen guten Kobolden verlassen. Ein Grund, hinzufahren und die umliegende Gegend zu erwandern. Wobei ich mich mit dem Auto näher dran stellen würde… 😉
Die ganze Wanderung von Karlsbad ist schon heftig. Aber auch schön.
Ich bin eigentlich froh, dass ich kein Auto habe und deshalb gar nicht in die Versuchung komme, meine Ausflüge abzukürzen.
Hab eben nachgeschaut, um die dreizehn Kilometer. Das geht noch – allerdings fehlt da noch der Rückweg. Muss landschaftlich sehr schön sein.
Sehr schön und sehr viel auf und ab. 🙂
Es geht aber auch (selten) ein Bus.
Oder man trampt, wie ich es gemacht habe. Das dürfte für den Rückweg kein Problem sein, weil auf der Straße eigentlich jeder nach Karlsbad fährt.
Ja nöö, frau trampt eher nicht. Auf und ab gefällt mir beim Wandern, das fordert die Waden 🙂
Von Karlsbad war ich nach der Schwärmerei von Bekannten, wie schön es dort sei, auch enttäuscht. Der Funke ist so garnicht übergesprungen, was nicht allein am etwas trüben Wetter lag.
„Schön“ bedeutet eben für jeden etwas anderes… für manche sind es herausgeputzte Fassaden, für andere eher die spannenden Orte 🙂
Rausgeputzt war es schon, aber mir fehlte irgendwie die Atmosphäre, die ich in meiner Vorstellung mit dem Ort verbunden hatte.
WordPress hat mich übrigens einige Monate nicht einloggen lassen, so dass ich nicht kommentieren konnte.
Ja, manchmal verbindet man mit einem Ort eine Vorstellung, die man hat, und dann ist es ganz anders. So erging es mir mit London. Ich glaube, ich hatte da noch zu viel viktorianische Geschichten und Jack the Ripper im Kopf.
WordPress: hast du inzwischen herausgefunden, woran das lag?