Irgendwie habe ich mich heute in der Zeit vertrödelt. Bei allerlei morgentlicher Tätigkeiten wie die Wohnung auf Vordermann bringen, ein paar Hemden bügeln (ja, das mache ich gerne; solange ich nicht muss…), Blogbeiträge schreiben und abwaschen vergehen die Stunden wie im Flug. Doch da ist auch dieses Bedürfnis, es ruhiger angehen zu lassen. Recht spät am Mittag komme ich los.
Was sagt der Himmel draußen? Die Wolken ziehen vorbei und in den Gemäuern macht sich wiederholt diese unheimliche Kälte breit. Seit Tagen wird Regen angesagt, doch was davon bleibt, sind schwere, dunkle Ungetümer an Regenwolken, die am Firmament entlang ziehen, und kalter Wind. Der Regen bleibt aus; hoffentlich wird die fragile Stabilität anhalten. Nichts wie raus mit mir.
Diesmal ist der Weg ein anderer, denn diesmal geht es in die entgegengesetzte Richtung. Quer über Felder und an uralten Weiden vorbei führt mich der unbefestigte Weg zum entlegenen Friedhof.
Über schlammige Pfade
Unser Familienfriedhof samt der kleinen, alten Holzkirche befindet sich nicht in der von mir beschriebenen Stadt. Unser Haus sowie das gesamte Dorf gehören einer anderen Gemeinde an. Und so kommt es, dass die Verstorbenen auf dem Gemeindefriedhof bestattet werden. Nicht, dass es viele wären. Denn der Krieg, wie jeder Krieg überall auf der Welt, hat die Menschen in alle Himmelsrichtungen getrieben. Auf der Suche nach Sicherheit und Stabilität hatten sich meine Großeltern mütterlicherseits nahe bei Warschau, der Hauptstadt, angesiedelt. So liegen hier nur bestattet, fern von ihrer eigentlichen Heimat: meine Oma, die ursprünglich bei der heute ukrainischen Stadt Lemberg lebte, sowie die Mutter meines Großvaters.
Das mit des Großvaters Mutter ist eine seltsame Geschichte. Angeblich soll sie eine reinrassige Ukrainerin gewesen sein, doch der Name ihres Vaters wiederum lautete: Hoch. Ein „Hoch“, das klingt nicht ukrainisch. Und schon kommen Überlieferungen über dort ehemals lebende, deutsche Minderheiten zutage.
Über die vielen Hintergründe erfahre ich erst später. Aktuell stampfe ich mit meinen Wanderschuhen vorsichtig um die großen, schlammigen Pfützen herum, die nur einen schmalen Rand übrig lassen, um den Wanderer trockenen Fußes passieren zu dürfen. Heute gibt es freilich eine Umgehungsstraße, die den Reisenden in unseren Gemeindeort Żuków führt. Doch zu Zeiten meiner Oma war da nichts als Feld und Schlamm nach dem Regen. „In dieser Holzkirche bist du getauft worden.“ Erzählt mir meine Mutter. Damals hatte kaum jemand so etwas wie ein Auto; ein Pferd samt Gespann war da schon wahrscheinlicher. Oder ein Traktor. Doch die ganze Prozession der Gäste, mit Baby-Kasia im Kinderwagen, quälte sich zu Fuß die zwei- bis drei Kilometer über jenen schlammigen, feldigen Pfad.
Und auch ich folgte als Kind häufiger diesem Weg. Einmal im Jahr im November, als man bei uns den Toten gedachte und sich ganze Familien an den Gräbern ihrer Lieben versammelten. Als es kalt war und die Totenleuchten im Wind flackerten. Und alle Kinder am Grab froren und sich langweilten, während sie ernste Mienen machten.
Vom frieren kann nun nicht die Rede sein. Wie immer habe ich mich zu warm angezogen. Auch der Pfad wird kaum noch genutzt, ich bin hier alleine mitten im Feld. Die Wasserkanäle sind erfüllt vom Geschrei der Enten und Wildgänse. Verborgen im Dickicht sind sie nur selten zu sehen; protestierend erheben sie ihre Stimmen, als ich scheinbar zu nahe an ihrem Domizil vorbei komme. Verhüllt wird die Szenerie von Weiden, die hier so schnell in die Höhe wachsen, dass man mit dem Schneiden nicht mehr nachkommt.
Diese großen, knorrigen Weiden sind typisch für weite Teile der polnischen Landschaft. Meist stehen sie irgendwo am Rande der Felder. Sie sind alt und zerklüftet, und der Legende nach leben kleine Teufel in ihrem Stamm.
Was ich an diesem Tage hier am Friedhof will? Ich will das Grab meiner Oma besuchen.
Und wieder habe ich nichts dabei. Keine Blumen – wo bekommt man hier auf dem Dorf Blumen her? Doch da fallen mir die vielen blühenden Wildkräuter ins Auge. Meine Oma mochte es, als ich ihr zu Lebzeiten wilde Blumen pflückte. Gut, damals war ich fünf oder sechs Jahre alt.
Einen Moment später tapse ich am Graben entlang und stelle einen eigenwilligen Strauß zusammen.
Der Familienfriedhof
Der Friedhof hier ist denkbar anders als das, was wir kennen. Mit den Augen eines Besuchers fällt mir all die Andersartigkeit auf. Zunächst einmal sind die Gräber uralt. Miete auf Zeit, so etwas gibt es bei uns nicht. Würde sich doch einer trauen, die Überreste der Verstorbenen wieder auszubuddeln oder ein neues Grab obenauf zu setzen. Gut, es gibt auch genügend Platz, der Friedhof ist weitläufig. Alte Grabsteine zerfallen vor sich hin, ihre Inschriften sind teilweise kaum noch entzifferbar. Doch auch hier hat sich jemand gekümmert. Leuchtende Grabkerzen brennen ihr ewiges Licht.
Die Grabkerzen haben bei uns Tradition. In Zeiten meiner Kindheit hat es sie in allerlei Formen gegeben. Aus Glas, geschlossen und vor Regen geschützt oder auch offen, die günstigere Variante, die bei stärkeren Windböen unweigerlich ausging. Heute sind nur noch große, geschlossene Kerzen zu sehen. Ganz im Sinne der Nachhaltigkeit kann man den inneren Teil, nachdem er ausgebrannt ist, auswechseln und gegen einen neuen ersetzen.
Der Gedanke der Nachhaltigkeit treibt hier zum Teil seltsame Blüten. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Künstliche, grellbunte Blumen, wohin das Auge reicht. Jedes Grab ist voll davon, der ganze Friedhof ist damit bedeckt. Lilien aus Plastik, Rosen in allen erdenklichen Farben. Obwohl es falsch wäre, dies auf die Nachhaltigkeit zu schieben. Hier äußert sich wohl eher der übliche, polnische Pragmatismus.
„Wie kann es sein“, mokierte sich einmal ein deutscher Bekannter von mir, „dass die Totenverehrung in Polen einerseits so groß geschrieben ist, andererseits aber überall diese billigen Kunstblumengebinde zu sehen sind?“ Nun, das ist kein Widerspruch per se. Kunstblumen, so erklärt mir meine Familie, sind überaus praktisch. Sie verwelken nicht schon übermorgen, müssen nicht gepflegt werden und sehen monatelang gut aus. Die perfekte Lösung für ein schönes Grab.
Doch auch „richtige“ Blumen kommen immer mehr in Mode. Dann aber als eingepflanzte Satzlinge, die schön vor sich hin wachsen und alle Schaltjahr einmal erneuert werden müssen. Auch wieder eine praktische Lösung. Am Allerheiligen kommt zwar alles, was noch atmen kann, an den Friedhof und gedenkt der Verstorbenen, doch unter den Jahren bleibt da wenig Zeit für regelmäßige Grabpflege. Man muss also einfallsreich sein.
Maiglöckchen scheinen hier eine typische Friedhofspflanze zu sein. An jedem dritten Grab sehe ich sie wachsen. Maiglöckchen, die stillen, unaufdringlichen, die mit ihrem Duft, nicht mit ihrem Aussehen, Aufmerksamkeit erzeugen.
Langsam wandere ich zwischen den Gräbern umher. Noch ein Unterschied fällt mir ins Auge. Dort, wo auf unseren Friedhöfen das Geburts- und das Todesdatum prangen, steht auf polnischen Gräbern geschrieben: verstorben am… hat … Jahre gelebt. Die Rechnerei entfällt. Wenn man wissen möchte, wie alt ein Mensch geworden ist, so springt es einem förmlich ins Gesicht.
Wie auch die vielen Fotografien der Toten, die an fast jedem Grabstein zu sehen sind. Das ernste Gesicht einer Frau, die wachen Augen eines Jungen, der bereits verstorben war, lange ehe ich das Licht der Welt erblickte. Ein verblichener Traum aus Sepia, ein Blick auf einer anderer Zeit, einer Zeit lange vor der meinen. Augen, die längst nicht mehr da sein durften, schauen mich an. Als würde sich kurz ein Schleier lüften und einen Blick in die vergangenen Jahrhunderte enthüllen.
Am Grab meiner Oma stelle ich die Blumen in eine Vase. Auch in der Vase befindet sich ein bunter Kunstblumenstrauß; mein Ensemble aus Kräutern und wilden Kastanienblüten bildet eine schöne Ergänzung dazu. Ich bleibe nicht lange. Kurz lasse ich die Erinnerung aufkommen, machen mir bewusst, wie lange es schon her ist. Es ist seltsam, wenn ein sehr vertrauter Mensch stirbt. Es ist wie ein Phantomschmerz. Wie ein Arm, der einem fehlt, längst nicht mehr da ist, doch immer noch schmerzt. Das hier ist nicht der Ort, wo ich meine Oma sehe. Ich sehe sie in dem Haus, in dem ich zur Gast bin, wie sie unten durch die renovierten Räume streift. Der Ort der Menschen ist nicht ihr Grab, es sind die Plätze, wo sie lebten, wo sie sich gern aufhielten. Ein verstorbener Mensch ist so vollständig weg, so endgültig, dass dafür Worte fehlen.
Kirche „Verklärung Christi“
Im Anschluss besuche ich die alte Holzkirche. Hier wurde ich getauft, und hier wurde mein Onkel getauft. Hier wurde für meine Oma die Messe abgehalten. Die Kirche hat eine sehr schlichte Form. Sie wurde zwischen 1676.1677 aus Lerchenholz gefertigt. Es ist bereits die dritte Kirche aus Holz, die hier an dieser Stelle steht. Die anderen beiden wurden jeweils bei Bränden vernichtet.
Nun gut, so richtig „besuchen“ kann ich die Kirche nicht. Es ist mitten in der Woche und die Türen sind verschlossen. Für touristische Besichtigungen der Gotteshäuser hat man hierzulande noch nicht das Gespür entwickelt, oder vielleicht kommt es zu selten vor. Tipp von mir, wenn ihr eine Kirche sehen wollt, geht in Zeiten der Messe hinein. Vorher und hinterher werden die Kirchen meist sofort verschlossen.
Es ist mitten in der Woche und weit und breit keine Messe in Sicht. Also schleiche ich um das historische Gebäude und mache seufzend ein paar Bilder. Die Kirche wurde vor kurzer Zeit aufwendig restauriert. Und auch wenn ich an dieser Stelle keinen Fotobeweis liefern kann, lasst euch sagen, dass sie trotz ihrer Schlichtheit im Inneren über eine wunderbare, barocke Ausstattung verfügt,. Die barocken Holzschnitzereien stammen noch aus dem 17 und 18 Jahrhundert. Vor den Toren zum Kirchengelände segnet eine relativ neue, schneeweiße Statue von Jan Pawel II die Gemeinde. Der letzte polnische Papst erfreut sich auch nach seinem Tode einiger Beliebtheit hier im Land.
Zurück über die Felder. Das schwarzblaue Wolkenfeld am Himmel bewegt sich parallel zu meiner Route. Ein Regenguss bleibt mir heute erspart. Felder wilden, weiß blühenden Meerettichs springen mir vor die Linse. Häuser, Höfe, Ställe, Enten und Hühner. Hier und da ein Traktor. Hunde, die laut zu bellen beginnen, sobald man sich einem Gehöft nähert. Noch so ein Unterschied. Deutsche Hunde wollen spielen. Polnische Hunde wollen dich fressen.
Das pragmatische Plastik habe ich in der Form schon auf vielen Friedhöfen in allen möglichen Ländern gesehen. Und ehrlich gesagt hat es mich bisher auch nie gestört. Es hat in meinen Augen nicht die Kraft, der speziellen, ruhigen, friedlichen Atmosphäre etwas Störendes entgegenzusetzen.
Lach, das Plastik an sich ist schon speziell, das ist wahr. Und so hat jeder dieser Orte so seine Eigenheiten 🙂
Der Friedhof erinnert mich an die Abteilung für Roma-Familien auf unserem Friedhof. Normalerweise sind Kunstblumen und Statuen, die eine bestimmte Größe überschreiten, nicht erlaubt, aber in dieser Sektion gelten Ausnahmregegelungen, weil Kunstblumen und große Marienstatuen wohl zur Kultur von katholischen Roma-Gräbern gehören. (Die Muslime haben ebenfalls eine eigene Sektion, die auch von einem muslimischen Geistlichen geweiht wurde. Da finden sich oft Steine oder Erde aus Mekka oder einem anderen heiligen Ort um die mit Steinplatten bedeckten Gräber.)
Einmal sind mein Vater und ich an einem Sonntag auf dem Friedhof spazieren gegangen – er ist sehr schön mit Baumbestand, Landschaftsblicken und Stellen, wo gar keine Gräber sind. Eine etwas größere Familie hat in der Roma-Abteilung ein Picknick gemacht. Das war schon etwas ungewöhnlich, aber man erklärte uns, dass die Toten so noch am Leben teilnehmen. Man isst und trinkt und redet mit ihnen. Eigentlich eine schöne Idee; warum soll ein Friedhof immer nur ein Ort der Trauer sein.
Ich wusste gar nicht, dass es in Deutschland Vorgaben diesbezüglich gibt…? Das würde den einheitlichen Stil der deutschen Friedhöfe erklären. Die Steine als Beigaben auf jüdischen Gräbern habe ich schon gesehen, aber einen Roma-Friedhof noch nicht. Vermutlich gibt es da auch noch Unterschiede.
Das Picknicken finde ich schon in Ordnung. Warum auch nicht, wenn man sich so seinen Angehörigen nahe fühlt.
Liebe Gabriele, ich traue mich gar nicht mehr, auf deinem Blog zu kommentieren. Ich glaube, die letzten Male habe ich das irgendwie an der falschen Stelle gemacht… 😉
Liebe Grüße
Liebe Kasia, die Kommentarfunktion ist am Ende des Posts. Bei deinem Blog steht die Anzahl der Kommentare unter dem Titel des Posts; das hat wahrscheinlich zu der Verwirrung geführt.
Hm, dann war ich richtig… ich schau nochmal. Danke! 😉
Ich habe ganz ähnliche Friedhöfe in Kroatien gesehen: viel schwarzer Marmor und viel Plastik. Auch typisch: die Bilder Verstorbener am Grabstein verewigt. Gut, dass Du für die polnischen Hunde am Ende zu schnell warst!
Oh die polnischen Hunde. Als Kind war ich immer mit dem Rad unterwegs. Da machte es natürlich besonderen Spaß, mich zu jagen. Ich konnte die klaffenden Mäuler mit den Zähnen fast schon an meinen Waden spüren. Doofe Köter…
Wow – das erste Bild ist ja schon echt bunt…Ich lieb solche kleinen „Macken“ der verschiedenen Völker…einfach herrlich – vor allem, dass man es noch sieht.
Wieder ein toller Bericht.
Dankeschön 🙂 Ja, die ganzen bunten Plastikblumen sind schon sehr knallig. Stell dir das erstmal im Winter vor…
Uh – toll – dann sind das richtig tolle Farbkleckse im Schnee
Richtig, der Friedhof blüht, zu jeder Jahreszeit 😉
Ich finde es irgendwie schön schrullig😊
Besuchen auch immer wieder gerne einen Friedhof in Polen, wo Onkel und Tante meines Mannes ihr Grab haben.
Liebe Grüße von Hanne
Liebe Hanne,
dann muss dir vieles sehr vertraut vorgekommen sein 🙂
Liebe Grüße
Kasia
Ja, das ist es immer wieder mal bei deinen schönen Bildern, Eindrücken, liebe Kasia. 😉
Liebs Grüßle
Schön, das freut mich sehr!
Die Kirche ist ja hübsch. Ich glaube, ich muss auch mal nach Polen. Die Wurzeln meiner Familie väterlicherseits sind in Masuren und ich war noch nie da.
Leider kann ich kein polnisch. Mein Vater konnte noch ein paar Wörter, hat sie uns leider nicht beigebracht.
LG Liane
Liebe Liane,
die jungen Leute bei uns sprechen in der Regel ziemlich gutes englisch. Gut, wenn du dich im tiefsten Dorf befindest, könnte das anders aussehen. Andererseits sind die Masuren eine touristische Region. Trau dich 😉
Liebe Grüße
Kasia