Fulda, Silvester 2014
Tausend Lichter glühen in der Dunkelheit, während die kühle Luft meine Wangen streift. Ich weiß ich habe noch etwas Zeit, bevor mein Bus weiter fährt – weiter zu meiner Familie nach Warschau. Und so bewundere ich die Straßenbeleuchtung in der Vorweihnachtszeit, die die Stadt Fulda zum Funkeln bringt. Wie auch in anderen deutschen Städten um die Weihnachtszeit herum ist auch hier die Stimmung eine besondere; Fußgänger streifen durch die Straßen der Innenstadt. Und alles leuchtet – wie in vielen anderen Städten auch.
Doch in diesen Augenblicken, zwischen Bürgersteig und warmen Polstersitzen, wird eine vage Idee gewonnen, die immer mehr an Klarheit gewinnt, je weiter sich der Bus von der Stadt weg und zur deutsch-polnischen Grenze zubewegt. Die Idee, etwas zu wagen, statt über die Silvesternacht zu Hause zu sitzen und auf Einladungen zu warten. Ich werde stattdessen etwas tun, was ich so noch nie getan habe, und schon gar nicht alleine. Ich werde Silvester in einer fremden Stadt verbringen, in der ich noch nie zuvor gewesen bin – ich fahre nach Fulda.
Das gibt es doch gar nicht, denke ich, während ich in der Dunkelheit des späten Abends zum wiederholten Male um den Block kreise und dem Autofahrer hinter mir Tränen der Verzweiflung in die Augen treibe – das muss doch hier irgendwo sein…? Stefan würde sich sein Lebtag nicht so blöde anstellen wie ich…
Hier, genau hier wird auf dem Bildschirm des Navigationssystems das kleine Fähnchen angezeigt, welches mein ersehntes Ankunftsziel bedeutet; doch ich darf in diese Richtung gar nicht lang…? Schließlich gebe ich auf und lasse mein Auto etwas weiter außerhalb an einem langgezogenen Zaun stehen und laufe, die Tasche in der Hand, zum gebuchten Hotel. Sei es drum…
Nachdem der Tag immer näher rückte und der Silvesterabend schließlich vor der Tür stand, mache ich am selben Abend Nägel mit Köpfen und reserviere mir in Fulda ein Hotel. Mein Liebster eiert währenddessen irgendwo zwischen Bayern und der Schweiz herum und bot mir an, nachzukommen, doch das wohlgemeinte Angebot schlug ich aus. Ich habe stattdessen etwas anderes vor…
Etwas außer Atem, den Rollkoffer fest umklammernd, komme ich in der Hotellobby an. Mein erstes selbst gebuchtes Hotel. Die Rezeptionistin lächelt mich geschäftlich-freundlich an.
Nachdem ich eingecheckt habe, gehe ich hoch aufs Zimmer. Mein Einzelzimmer in der Altstadt von Fulda kostet ein kleines Vermögen und wie durch ein Wunder war überhaupt noch etwas frei. Ich trete hinaus auf den Balkon und schaue nach unten, auf die nächtliche Fußgängerzone und die ruhige Stadt. Es ist zu früh, noch ist hier unten gar nichts los, doch das soll sich ändern – von hier oben würde ich den perfekten Ausblick auf das Feuerwerk haben. In meiner Tasche liegen drei dicke Zigarren verstaut – sobald das Krachen des Feuerwerks die nächtliche Stadt erfüllt, sollen sie angezündet werden.
Doch jetzt treibt mich der Hunger wieder zurück auf die verlassenen Straßen. Hier wird doch irgendwo ein McDonalds sein?
Ja, den finde ich. Und auch diverse Dönerläden. Allesamt geschlossen. Was hatte ich an einem 31 Dezember nach 20 Uhr erwartet? Hungrig streife ich also weiter durch die Straßen und bewundere die funkelnden Häuser. Einige Menschengruppen streifen mit und hier und da wird schon der eine oder andere Böller abgefeuert.
Irgendwann stehen ich wieder auf dem Balkon meines Hotelzimmers. Immer noch Hungrig. Einzig das Hotelrestaurant unten hat noch geöffnet, doch es widerstrebt mir, alleine essen zu gehen, und so harre ich aus.
Was würde Stefan jetzt tun?
Es ist der Hunger, der siegt. Und der Gedanke an einen Stefan, der, mit sich selbst zufrieden, solo in einem Lokal sitzend sein Essen genießt und an seinem Wein herummänkelt. Und keinen Kehricht darauf gibt, wie das beim Kellner ankommt. Mit solchen und ähnlichen Gedanken gestärkt trete ich in das belebte Restaurantinnere ein und vor den Kellner.
„Ich hätte gerne einen Tisch. Für mich.“
Kurze Zeit später sitze ich an einem. Das Lokal scheint doch nicht so überfüllt wie gedacht. Die Menschen sitzen zufrieden schmatzend da, Unterhaltungen erfüllen den Raum. Und obwohl ich mich anfangs der Illusion hingebe, von allen Seiten heimliche Blicke zu ernten, stelle ich schon nach kurzer Zeit fest, einer Selbsttäuschung erlegen zu sein – fast alle Gäste sind in ein Gespräch vertieft, die einzige, die in die Gegend schaut, bin ich. Und so bestelle ich mir ein großes, saftiges Steak mit dicker Knoblauchkruste und lasse es krachen. Bis auf die Bedienung spreche ich heute Abend eh keinen mehr.
Der Priester
Als der Wecker um kurz vor zwölf klingelt, bin ich im ersten Moment völlig orientierungslos. Einen Augenblick später fügen sich die Puzzlesteine wieder zu Geschehnissen der letzten Stunden zusammen. Ich habe mir ein Auto geliehen und bin auf eigene Faust nach Fulda gefahren, habe eine Weile mein Hotel gesucht und anschließend etwas zu Essen in einer Stadt, in der am Silvesterabend fast alle Bürgersteige bereits nach oben geklappt worden sind.
Und in meiner Reisetasche wartet eine dicke Zigarre auf mich, die auf dem Balkon im Licht des Feuerwerks angezündet werden will. Die Big Mama.
Sofort bin ich wieder hellwach. Vereinzelt höre ich bereits die ersten Ungeduldigen, die ihre Feuerwerke noch vor der Zeit abfeuern. Und einen Moment später sitze ich warm eingemümmelt auf dem Balkon und schaue nach unten.
Aus vereinzelten Knallern werden immer mehr. Es sind seltsamerweise nicht allzu viele Leute unten auf der Straße, doch das Feuerwerk um mich herum kann ich gut sehen, ebenso wie die nach unten gerichteten Köpfe und Hände, die ungeduldig auf der Tastatur der Mobiltelefone herumtippen. Diesen Brauch, sobald die Uhr zwölf schlägt, just im selben Moment aller Welt ein gutes Neues Jahr zu wünschen und somit für einige kurze Minuten das komplette Netz zu überlasten werde ich nie ganz verstehen. Ist denn am Morgen danach das Neue Jahr nicht mehr neu?
Am nächsten Morgen sind die Straßen der Stadt wie leer gefegt. Ich checke aus dem Hotel aus und, weil es sich gerade anbietet, schaue ich mir noch im Foyer die Gemäldeausstellung einer Künstlerin im. Danach schlendere ich durch die grauen, kalten Straßen, auf denen die abgeschalteten Lichter von Weihnachtsdekorationen neben gebrauchten, auf dem Gehweg verteilten Böllern, ein wenig fehl am Platz wirken. Kaum ein anderer Mensch kreuzt meinen Weg, außer er nennt einen Hund sein eigen. Es wirkt wie aus „Die Welt ohne Menschen“ und der Anblick lässt kaum den Gedanken zu, dass Fulda ja eigentlich nicht gerade klein und an den Wochenenden doch recht belebt sein muss. Es ist viertel nach acht.
Fulda ist eine barocke Statt mit einer schönen, langen Fußgängerpassage, einem kleinen Schloss und dem Fuldaer Dom, der sich mit ihrer außergewöhnlich harmonischen Form von ihrer Umgebung abhebt. Bereits gestern, in der Dunkelheit des späten Abends und im fahlen Licht der Weihnachtsdekorationen, habe ich mir eine erste Orientierung verschaffen können, doch nun, im hellen Licht des Tages wirkt die Stadt auf mich wie das gedämpfte, zwielichtige Zimmer eines Gentlemen Clubs, nachdem man die schweren Samtvorhänge schonungslos zur Seite gerissen hatte. Nichts mehr blieb übrig vom Zauber der Silvesternacht.
Im Dom findet ein Neujahresgottesdienst statt. Zu meiner Überraschung ist das Kirchenschiff relativ gut gefüllt. Eigentlich will ich mir nur das barocke Innere, die hellen, reich verzierten Gewölbe ansehen, die in ein rosa Licht getaucht zu sein scheinen, doch anscheinend platze ich genau vor der Messe rein, denn sogleich kommt ein Priester auf mich zu.
„Der Gottesdienst beginnt gleich. Aber wenn Sie wollen, können Sie hier bleiben.“
Na, warum eigentlich nicht?
Worum es bei der Predigt letztendlich ging, weiß ich heute nicht mehr. Nach circa einer Stunde ist die Messe beendet und ich beginne wieder, durch das Seitenschiff zu streifen. Doch der Priester von vorhin scheint auf mich gewartet zu haben, denn wie durch einen Zufall kreuzt er wieder meinen Weg.
Wie beiläufig stellt er Fragen. Und wie beiläufig erzähle ich ihm mehr, als ich eigentlich erzählen will. Er glaubt, ich bräuchte Beistand. Doch den brauche ich nicht. Ich lache innerlich, bleibe nach außen hin ernst, weil ich ihn nicht beleidigen möchte. Hätte dieses Gespräch vor einem Jahr stattgefunden, als mein Leben zu bröckeln begann, so hätte er mit seiner Vermutung Recht behalten, doch nun sind alle Züge abgefahren, die Weichen auf „neu“ gestellt.
„Hier.“ Er legt mir eine kleine Kerze in die Hand. “ Wenn Sie nun nach Hause fahren, dann rufen Sie laut – es wird sie ja sonst keiner hören – rufen Sie lauf: Hilf mir! Hilf mir!“
Vielleicht wenn gerade Stau ist, denke ich und nicke; denn das Einzige, was bei Staus oft hilft, ist Gottes Beistand. Die Kerze habe ich immer noch.