Motorradtour Bayern/Österreich, Juni 2017
Trachten – ich dachte, es sei Kleidung für besondere Anlässe, dachte an Traditionen, die hochgehalten, jedoch nicht mehr gelebt werden würden. Doch heute, am Sonntag, sehe ich, dass die Menschen auch in Trachten in die Kirche gehen – in tiefsten Bayern ganz normal. Das Muhen der aufgeregten Kühe erfolgt synchron zu Lauten der schlagenden Glocken. Ich schließe die Augen und lausche dem Gezwitscher der Lerchen.
Der Pfahl in bayerischen Farben dient als Begegnungsstätte für die Trachtenträger, derer sich ein Grüppchen vor der Kirche versammelt hat; angeregt stehen sie da und reden. Als ich eine halbe Stunde später hinunter blicke, sind sie immer noch da. Unten an der Rezeption kratze ich mein restliches Bargeld zusammen (…oder war es Stefans restliches Bargeld…?) und kaufe mir einen Vorrat dieser überirdisch leckeren Pralinen für zu Hause; ob sie es freilich bis dahin überleben werden, sei dahingestellt…
Es ist warm, sehr warm, als wir am Morgen um zehn unsere Tour starten. Es sind für heute über 36 Grad angesagt und ich lasse jetzt schon meine Sturmhaube weg, sowie jeglichen unnötigen Überschuss an Kleidung. Während der Fahrt kühlt uns der Wind, als wir an wogenden Weizenfeldern vorbei rauschen, doch das Halten an Ampeln wird für einen in Lederklamotten eingepackten Biker zur Zerreißprobe…
Unser heutiges Tagesziel ist das Kloster Andechs.
Die Straßen sind seltsam leer, ganz so, als säßen die Menschen zu Hause vor dem Fernseher. So kommen wir gut voran, zumindest jetzt noch, doch als wir am Klostergelände ankommen, ändert sich die Lage. Es kamen anscheinend noch andere auf die Idee, an einem Sonntag hierher zu kommen; wir bekommen gerade so einen Parkplatz. Inzwischen ist es Mittagszeit, nun brennt die Sonne unbarmherzig auf unsere Köpfe hinunter. Stefan schwitzt und seufzt vor sich hin.
Um das Kloster herum ist viel Gewusel zu sehen, Familien mit Kindern, Einkaufswütige und so einige Biker, die den Spot als Zwischenstopp ihrer Touren eingeplant haben. „Die meisten kommen hierher, um schön gepflegt… den Sonntag zu weihen.“ Sagt Stefan breit grinsend. Ich wundere mich ob seiner Gewissheit und schaue mich um. Und wie zur Bestätigung läuft einer mit einem Sixpack Bier in der Hand an uns vorbei. Nun, wen wunderts; ist doch das Kloster Andechs weithin für seine Klosterbrauerei bekannt, eine der wenigen, die, unabhängig von großen Marktführern ihr Bier selbst brauen und vor Ort abfüllen.
Schwitzend beginnen wir, hochzuklettern, laufen an diversen kleinen Verkaufsständen vorbei links und rechts des Weges. Vor dem Kloster ist ein regelrechter kleiner Markt entstanden, auf dem man alles mögliche erstehen kann, von Wurstwaren über Besticktes bis hin zu Schnäpsen aller Art; alles mit dem Segen von oben natürlich.
Und als wir dann, gesegnet, endlich oben sind, führt unser erster Weg zum kleinen Klosterlädchen, wo sich Stefan sogleich mit diversen Schnäpsen eindeckt. Eine Verkostung ist für uns leider Tabu und auch für Bier haben wir auf dem Bike nicht so viel Platz, aber Schnäpse in kleinen Fläschen – das geht immer. Ich sehe Stefans Äuglein vor Vorfreude flackern.
Das Innere der Klosterkirche ist im Rokoko Stil gestaltet, mit viel Gold, hell und verschnörkelt. Es sind die filigranen Wand- und die Deckenmalereien, die mir außerordentlich gut gefallen, wir sitzen zunächst einmal da und schauen uns begeistert um. Und als es dann „weiterfahren“ heißt, mag ich die harte Holzbank gar nicht mehr verlassen – nicht zuletzt, weil der Innenraum der Kirche wie eine kühlende Isolierung wirkt gegen die Hitze da draußen.
Wir umrunden das Kloster, stoßen auf ein Kreuz, das auf der Rückseite der Gemäuer steht – und dahinter auf einen Ausblick hinunter auf das Allgäuer Land. Stefan stellt sich mit gefalteten Händen davor – fast perfekt, nur das diabolisch anmutende Grinsen steht in Widerspruch zu der frommen Pose.
Auf dem Weg nach unten entdecke ich eines dieser Häuser mit Wandmalereien, das etwas abseits des Weges steht. Beinahe hätte ich es übersehen, so unscheinbar wirkt es im ersten Moment. Und doch bei näherem Hinsehen – wunderschön. Es ist sein Alter, das es so schön macht. Das verblasste Rosa der Wände, die abblätternde Farbe… die Blumenmuster auf den hölzernen Fensterläden sind kaum noch zu sehen. Es ist in keinster Weise restauriert, und das macht seinen Charme aus. Die Vergänglichkeit, die anziehende Schönheit des Verfalls; unwillkürlich kommen mir die mit Schlingpflanzen überwucherten Angkor-Wat-Tempel in Kambodscha in den Sinn.
Wir starten, diesmal zielstrebig nach Hause. So ist der Plan. Traurig schaue ich hinter mich, als wir am himmelblauen Ammersee vorbeikommen, wo weiße Segelboote wie die Enten aufgereiht auf dem Wasser hocken, im Hintergrund die Alpen, die wir gerade verlassen. Es ist keine Zeit mehr, um anzuhalten, denn der Weg ist noch weit, und wir wollen heute noch zu Hause ankommen – möglichst vorbei an den Staus all derer, die, genauso wie wir beide, aus dem langen Wochenende nach Hause pilgern. Und doch spüre ich bereits die aufkeimende Lust, das unbändige Gefühl, wieder los zu ziehen, hinaus ins Blaue, in die Ferne. Ja, hinaus in die Ferne – das wäre jetzt ein schönes Schlusswort gewesen, aber ein paar Kleinigkeiten habe ich Euch noch zu erzählen.
Von der verrückt bunten Raststätte Illertal zum Beispiel, die mit ihren Wellen, Kreisen und Dreiecken, ihren fantasievollen Gestalten und Tieren und dem Dach, bunt wie Bonbons oder Eiskugeln, wie eine Mischung aus Gaudi und Hundertwasser anmutet, ganz so, als hätte sich dort ein Kind nach Lust und Laune ausgetobt.
Raststätte Illertal
Schon einmal habe ich diese Raststätte gesehen; damals, 2014, als wir nachts von Venedig aus über die Dolomiten nach Hause fuhren. Ich wurde davon wach, dass es still war und das Auto nicht mehr fuhr; müde klappte ich meine Äuglein auf. Stefan saß ruhig da und sah mir beim Aufwachen zu. Im Halbschlaf, wie ich war, warf ich einen Blick auf das traumähnliche Gebäude, schoss einen schiefen Schnappschuss und legte mich wieder hin.
Jetzt freilich bin ich hellwach und das Bauwerk erinnert mich dennoch an einen dieser Träume, wo alles Widersprüchliche plötzlich übereinzustimmen beginnt. Ich gehe näher heran und betrachte die Tiere und Figuren, die das Gebäude umrunden, entdecke dabei überrascht, dass es sich um Sternzeichen des Tierkreises handelt.
Innen hat die verrückte Kunstform wiederum mehr mit einer normalen Autobahnraststätte gemein: Es gibt Krimskrams, Toiletten, Kassen, die Toiletten sind mit bunten Mosaiken und Spiegeln ausgestattet. Jedoch ist die Inneneinrichtung nicht ganz so ausgefallen wie die quietschbunte Fassade.
Ich will Euch auch erzählen von den polnischen Lastwagenfahrern, die uns an der Raststätte unbedingt mit gegrillten Würstchen verköstigen wollten.
Während Stefan an der Kasse die Tankfüllung bezahlt, schnappe ich mir, um die Kasse nicht zu blockieren, schon mal das Moped und suche einen freien Stellplatz. Den entdecke ich auch, ein ganzes Stück weiter, inmitten von Trucks und halbnackten Truckfahrern, die hier und da draußen sitzen und pausieren. Da das Moped nur wenig Platz braucht, stören mich die vier Herren freilich nicht, die am Grill sitzen und Würstchen braten. Ich grüße und stelle die Maschine ab.
Sie grüßen zurück und einen kurzen Moment lang macht sich betretenes Schweigen breit. Bis…
„Biete ihr doch etwas an!“ Höre ich plötzlich einen von ihnen in meiner Landessprache sagen. Der Angesprochene nickt in Richtung der Grillwürstchen: …“essen?“ Fragt er mich im gebrochenen Deutsch.
Ich verneine dankend und im nächsten Moment sind wir dabei, uns in bester Manier auf polnisch zu unterhalten, wobei ich noch einige Male mit Nachdruck Würstchen angeboten bekomme. Doch zum einen ist es mir zu warm für Würstchen und zum anderen… ich kann den Männern doch nicht ihr Essen wegfuttern…?
Die Jungs erzählen mir von ihrem Job. Es wird alles schwieriger, die Lastwagenfahrer aus dem Ausland bekämen immer mehr Auflagen, das Übernachten auf Autohöfen sei teurer geworden. Doch solange es geht, wollen sie weiter machen.
Stefan kommt dazu. Bevor wir losfahren, bekommen wir abermals Würstchen angeboten. Ich finde das unheimlich nett und tue es mir schwer, abzulehnen, insbesondere bei den vielen herzlichen Argumenten: „Vielleicht wollt ihr ja ein Würstchen für später, für unterwegs? Sollen wir euch ein paar einpacken?“
„Und weißt du, was das schöne ist?“ Sage ich, als wir uns, bereits zu Hause, der Situation erinnern: „Die Leute sind einfach so. Sie bieten einem immer etwas an, wenn sie gerade selbst dabei sind, zu essen; auch wenn sie dich nicht kennen. Das vermisse ich hierzulande manchmal, diese… Gastlichkeit.“