Tore ins Nichts
Irgendwann nachmittags kommen wir in Raffadali an. Und nachdem Franco uns herumgeführt und uns im Rahmen einer Rundfahrt seinen Heimatort gezeigt hatte, begeben wir uns aufs Zimmer. Bereits zwei Minuten später liegt Jimmy* im Bett, erschöpft und in tiefstes Koma gesunken. Ich schleiche auf den Zehenspitzen hinaus auf den Balkon.
Schlafen kann ich nicht, nein, keineswegs, ich bin viel zu aufgeregt. Und obwohl auch ich die tiefe Erschöpfung spüre, bin ich hibbelig zugleich; ist es doch mein erstes Mal in Italien. Mit Erfurcht denke ich daran, was man uns diesbezüglich erzählt hatte; nämlich, dass die Festland-Italiener die Sizilianer nicht für ihresgleichen hielten. So, so… Ich bin gespannt, was uns hier erwartet.
Obwohl ich im Vorfeld sehr viel recherchiert habe, hat mich die Insel mit ihren Landschaften dennoch umgehauen, sind sie doch so anders als alles, was ich bisher kannte. Sanft hügelig ziehen sie sich dahin, mal trocken, mal grün, die Vegetation besteht oft nur aus ein paar Büschen und Olivenheinen, Kakteen und riesigen Aloe-Pflanzen. Dann wieder fahren wir durch einen dichten Wald. Unglaublich abwechslungsreich kommen die Hügel daher; mal sind sie sanft fallend, mal steinig und felsig; mal sandfarben, mal in einem satten Orange leuchtend. Die geschwungenen Straßen ziehen sich entlang der Hügel und Täler, unzählige Brücken und Viadukte führen über tiefe Schluchten und überall warnen Schilder vor starken Windböen; die „Socken“, wie ich sie nenne.
Die Ortschaften bieten eine Mischung aus malerisch und bröckelig zugleich. Vielerorts steht einfach mal eine zerfallene Hausruine mitten in der Pampa, umgeben von Sträuchern und halbhohem Gras. Überall auf der Insel trifft mal solche Ruinen an. Warum man die nicht abreißt, wollte ich wissen. Irgendwann einmal erklärt uns ein Insulaner, dass viele dieser Dinger unter Denkmalschutz stehen bzw. man eine Genehmigung bräuchte, um sie abzureißen. Also lassen die Menschen die alten Hütten einfach weiter zerfallen und bauen neue – meist nur ein Stück weit entfernt.
Und die Tore. Das fasziniert mich besonders. Da steht ein altes, mehr oder weniger altes Tor auf einem verlassenen Feld – wozu es den Zugang gewähren oder verwehren sollte, ist nicht ersichtlich, zudem nur das Tor auf dem Feld steht – der Zaun außen herum fehlt ganz. Kein Zaun, kein Gitter, nur das Tor, einsam und verlassen. Ähnlich den zerfallenen Hütten sind auch diese Tore über die gesamte Insel verstreut. Und manchmal – manchmal hängt noch ein altes, verrostetes, jedoch zugesperrtes Schloss dran.
Und überall brennt es. Nein, um Himmels Willen, nicht die Häuser – es sind die Felder, die brennen. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht mindestens an einem solchen Brand vorbei fahren, der sich manchmal sogar entlang der Straße schlängelt. Ich machte mir einen Spaß daraus, die Brände zu zählen und kam so auf einen Schnitt von mindestens drei pro Tag.
Überraschend abwechslungsreich sind die Ansichten der Insel, mal karg, mal grün und saftig, mit sich windenden Straßen, Brücken und atemberaubenden Landschaften. Ein Juwel, das wir so nie entdeckt hätten.
Scala dei Turchi
Sizilien war für uns bis zu diesem Zeitpunkt nur ein weißer Fleck auf der Landkarte. Wir hatten, bis auf ein paar Bilder aus den Katalogen, die uns in den Köpfen geisterten, und die uns gar nichts sagten, bis auf ein paar Film-Mafiosi, die in halbdunklen Räumen ihre weißen, plüschigen Kater streicheln, bis dato keine richtige Vorstellung von diesem Teil Italiens. Und auch keine weiteren Erwartungen an die Insel, bis vielleicht auf: ein bisschen Strand hier, ein bisschen Erholung da, und wenn möglich, weder überfallen noch ausgeraubt zu werden – was Standard-Touristen halt so wollen (oder eben nicht wollen…). Wie unrecht wir damit den Menschen auf Sizilien taten, sollte uns im Laufe unseres Aufenthaltes erst nach und nach klar werden…
Und wen fragt man am besten, was es vor Ort so schönes zu sehen; zu erleben gibt? Eh… nee, Leute… vergesst Eure Apps und Reiseführer… man fragt Einheimische (natürlich, was sonst… 🙂 ). Nur in diesem Falle hätten wir gar nicht zu fragen brauchen, denn Franco war ganz wild darauf, uns seine Heimat zu zeigen – und so bekamen wir an jeden neuen Tag gleich morgens nach dem Kaffee und Frühstücksbrötchen alle möglichen Tipps und Anregungen serviert, wie man sich denn die Zeit hier auf der Insel so vertreiben könnte. Denn Franco lag eines am Herzen: Er wollte, dass wir „seine“ Insel kennenlernen – und das von ihrer schönsten Seite.
Einer dieser Tipps war die berühmte „Treppe der Türken“, eine schneeweiße Felsformation, die unmittelbar ins Meer übergeht.
„Die müsst ihr euch ansehen.“ Schwärmte Franco. Nun, die Scala dei Turchi bei Realmonte ist so bekannt, dass sie sicherlich in jedem Sizilien-Reiseführer steht. Nichtsdestotrotz bekamen wir noch andere, echte Geheimtipps von Franco – dazu in weiteren Folgen mehr.
Wir lauschen Francos Wegbeschreibung und machen uns auf den Weg entlang der Küstenstraße. Raus aus Raffadali, an einer halb zerfallenen Casa Cantoniera zu unserer Linken vorbei, eine neu aussehende Brücke, die ungeachtet dessen nirgendwohin zu führen scheint; durch hügelige, trockene Landschaften und, mal zu unserer Linken, mal zu unserer Rechten die fernen, obligatorischen Feldbrände. Wir fragen uns nicht zum ersten Mal, ob sie gezielt von Menschen gelegt werden, um den ausgedörrten Acker fruchtbarer zu machen, oder ob sie durch Unachtsamkeit entstehen (Nun, anscheinend weder noch, denn zu diesem Thema habe ich bei meinen Recherchen Skurriles gefunden…)
Wir folgen der Straße in die beschriebene Richtung und finden uns an einem Strand wieder. Objektiv gesehen nicht außergewöhnlich schön, doch wir fühlen uns pudelwohl; der Strand verfügt über eine ruhige Promenade und keine Spur von Touristen – es kommen nur Einheimische hierher (überhaupt erleben wir Sizilien als ein wunderschönes, jedoch nicht besonders stark frequentiertes Pflaster).
Nur ein Problem gibt es mit dem Strand doch; es scheint sich nicht um die berühmte Scala dei Turchi zu handeln. von einer weißen Felsentreppe weit und breit keine Spur, nur ein paar weiße Felsen ragen an den Seiten aus dem Sand hervor. Es scheint nicht der richtige Ort zu sein… oder doch?
Meeresrauschen; im Hintergrund pastellfarbene Häuser mit zierlichen, weißen Balkonen. Wir kaufen uns Eis und lassen den Tag ausklingen. Und im Hinterkopf verbuchen wir den Tipp als „nett, aber nicht den Aufwand wert“.
Die „richtige“ Scala dei Turchi finden wir durch Zufall ein paar Tage später – wir hätten an jenem Tag nur einen halben Kilometer weiter die Straße entlang fahren müssen. Als wir anhalten und den Wagen abstellen (Lenkrad sichern wir mit einer Lenkradkralle, wir sind hier schließlich in Mafiosi-Land, oder nicht? 😉 ), sehen wir von der steilen Küste aus die schneeweiße Felslandschaft direkt zu unseren Füßen, inmitten vom unruhigen, türkisblauen Meer. Wir schauen herunter auf die Menschen, die sich genüsslich auf dem Felsvorsprung räkeln wie die Nordseerobben in der Sonne. Ach, wie gerne möchte ich jetzt auch eine Nordseerobbe sein!
Das weiße, kühle Gestein unter meinen Füßen ist Mergel, wie mich Wiki belehrt. Es erinnert mich an Gips und kleine Windböen wirbeln das weiße Pulver umher. Meine Fußsohlen sehen aus, als sei ich durch Kalk gewandert. Der Wind fühlt sich kühl an. Überhaupt ist es ein kühler Tag heute.
Das Wasser ist karibisch. Zumindest der Farbe nach. Ein Türkis – unglaublich! Doch die Wassertemperatur lädt heute nicht so sehr zum Verweilen ein (überhaupt sagte mir neulich Laura, Francos Tochter, dass es in diesem Jahr auf Sizilien keinen richtigen Sommer gäbe… what?) Wir schnappen uns trotzdem die Badesachen und gesellen uns zu den unten liegenden Italienern.
Doch gute Laune will irgendwie nicht aufkommen.
Oben auf dem Felsen ist es extrem windig. Stranddecke hüten ist angesagt, die sich unter unseren Hintern ständig aufbläht und wegfliegen will, sobald wir nicht aufpassen. Und Jimmy* beschwert sich immer mal wieder über Sand, den kräftige Windböen hier und da über die Decke verteilen. So wunderschön anzusehen die Location auch ist, so unpraktisch ist es in der Realität, dort Sonnenbaden zu wollen (und da hätten wir wieder die Sache mit der Reise-Romantik.).
Zum einen der Wind, der einen vom Felsen hinunter zu fegen droht. Zum anderen ist eine Abkühlung zwischendurch im Meer nach dem Sonnenbad nicht wirklich möglich; man liegt entweder zu weit oben auf dem Felsen, oder, wenn das nicht der Fall sein soll, ist die Brandung um die Felsen herum viel zu stark, um sich hinein zu begeben – der Wind peitscht das Wasser gegen den Felsvorsprung und lässt es in schäumenden Wirbeln umhertanzen wie in einem Hexenkessel.
So verbleiben wir also nicht lange in dieser optischen Traumkulisse – wir spazieren langsam und gemütlich in der sinkenden Abendsonne zu „unserem“ Strand, den wir ein paar Tage zuvor entdeckt hatten; den Strand bei Siculiana Marina.
Siculiana Marina
Der neu entdeckte Strand von Siculiana Marina wird zu unserem Lieblingsort. Er ist im Grunde nichts Außergewöhnliches – weder ist der Strand außergewöhnlich weiß noch ist die Aussicht außergewöhnlich schön- und doch haben wir uns in diesen Ort verliebt. Und mit eben jenem Strand haben wir einen malerischen und vor allem ruhigen Platz gefunden, an den wir immer wieder zurückkehren möchten.
Wir genießen die Gemütlichkeit und die Tatsache, als einzige Touristen unter all den Einheimischen zu sein. Das Auto sichern wir längst nicht mehr mit der Parkkralle ab; im Laufe der Zeit stellen wir einfach fest, dass die Menschen hier keine Schurken, sondern einfach nur… Menschen sind – meist sogar ausgenommen hilfsbereit und freundlich. So hatte uns eine Dame, die mit uns in Three Palms logiert, eine Physio-Massage angeboten – einfach so. Sie sei Physiotherapeutin und möchte, dass wir sie weiter empfehlen an Menschen, die wie wir zu Besuch auf die Insel kommen…
Wir wandern die Promenade entlang, genüsslich an unserem Eis schleckend; braten in der Sonne oder gehen ins Meer. Hinter uns sind pastellgelbe Häuser zu sehen, von denen ich mich immer wieder frage, wer dort direkt am Strand wohnt; oder sind es vielleicht Hotels? Zu unserer Linken ragt ein nicht sehr hoher Turm auf, der das Aussehen von Siculiana Marina prägt. Wir fühlen uns wohl hier – an der wunderschönen Scala dei Turchi, der Treppe der Türken, waren wir bisher nur ein einziges Mal.
Wenn wir gerade einmal keine Lust auf Sonnenbaden haben, schlendern wir die Küstenlinien entlang, bewundern die Farben des Sandes, das ockerfarbene Gelb, die Wirbeln, die das Wasser zwischen den Steinen entstehen lässt. Manchmal wandere ich den Steg entlang, lasse den salzigen Wind mit meinen Haaren spielen – und fühle mich frei. Alles ist wie weggeblasen, alles ist vergessen. Was immer ich an Sorgen und Gedanken noch im Kopf mitgebracht habe; hier sind sie weg.
Die großen Steinquader der Mole ragen tief ins Meer hinein; am ihren äußersten Ende steht die schneeweiße Statue der Jungfrau Maria, die dem Strand seinen Namen gab. Sie sollte Seeleute beschützen, die hinaus aufs Meer fuhren.
An manchen Tagen, wenn uns gerade nicht nach Schwimmen zumute ist, setzen wir uns dorthin über dem Wasser in die Sonne und beobachten den Wellen beim Tosen und Schäumen zu. Doch egal, wie weit oben wir sitzen, es ist doch nie hoch genug – denn wenn das Meer stürmisch ist, und das ist es an dieser Stelle öfters, erwischt uns immer mal wieder eine Welle; und dann springt je einer von uns erschrocken und salzig-nass von seinem Sitzplatz in die Höhe.
Sizilien hat das beste Eis, das ich jemals gegessen habe, und das kann ich auch heute noch, nach fast sieben Jahren, genauso unterschreiben. Es ist nicht wässrig wie man es hierzulande manchmal kennt; es ist in besonderem Maße reichhaltig, cremig, weich und geschmacksintensiv. Es hat seine ganz eigene, leckere Konsistenz.
Und auch hier erleben wir eine echte Überraschung, denn das beste Eis bis dato kosten wir nicht in einer Eisdiele mitten in der Stadt, sondern an eben jenem Strand von Siculiana Marina, an dem in einer abgegriffene Bude irgendwo am Strand, die aussieht, als könne sie den nächsten Sturm nicht überstehen (und wahrscheinlich kann sie das auch nicht), ein etwas schmuddelig wirkender, wortkarger Verkäufer steht, der keine Miene verzieht, während er unsere Becher mit den besten Eiskugeln füllt, die wir je gegessen haben.Eine abgegriffene Bude, ein abgegriffener Verkäufer, doch das Eis, Himmel! Das Eis ist einfach das beste.
Das war: Sizilien, August 2010
Wer ist denn die attraktive Frau auf dem Titelbild 🙂 ?
Mein jüngeres Ich 😉