In meiner Küche hängt ein Bild. Es ist eine Schwarzweißfotografie, die irgendwann im Sommer, in einem der letzten Sommer, in denen es mir vergönnt war, zu Hause bei den Großeltern zu sein, aufgenommen wurde. Darauf ist eine ältere Frau zu sehen, wie sie fröhlich auf der Treppe steht und dabei forsch lachend den hölzernen Fleischklopfer schwingt. „Pass du nur auf“, oder „komm du nur mal her“ bedeutet diese Geste, doch sie ist mit einem Augenzwinkern und einem Lächeln gemeint. Nicht, dass meine Oma nicht imstande gewesen wäre, diesen Hammer bei Bedarf auch einzusetzen; daran hatte keiner von uns einen Zweifel.
Ihre grau melierten Haare bilden eine zum Teil schon ausgewachsene, kurze Dauerwelle. Es war aus irgend einem Grund „Schöne-Haare-Zeit“, und wenn die „Schöne-Haare-Zeit“ anstand, bemühte sich Oma zum Friseur und ließ sich ihr Haupthaar mit viel Chemie und Lockenwicklern einweichen. Am besten gefiel sie mir jedoch, wenn ihr Haar gerade, von Natur aus leicht gewellt und nach hinten gekämmt war, die abstehenden Strähnen mit Haarklammern festgesteckt, damit sie nicht beim Kochen oder der Hausarbeit stören.
Oft habe ich mir als Kind gewünscht, dass meine Großeltern etwas anders wären. Etwas mehr wie die, welche ich aus meinen Kinderbüchern kannte. Die mit ihren Enkeln spielten, ihnen vorlasen. Und in meiner Kleinkind-Träumerei wusste ich nicht, wie gut ich es hatte.
Spielen, vorlesen – so waren Oma und Opa nicht. Doch das heißt nicht, dass sie sich mir nicht widmeten. Ich war nie überflüssig, selbst wenn sie keine Zeit hatten. Besonders Oma wusste es geschickt, mich in die Küchenarbeit einzubinden, ohne dass es nach Arbeit aussah oder sich so anfühlte. Oft bin ich in der Küche um sie herumscharwenzelt und habe ihr beim Kochen zugesehen. Und habe mich dabei keinen Augenblick lang gelangweilt. Oma bezog mich mit ein und erklärte mir, was sie da tat – und warum sie es tat. „Jetzt muss ich den Teig ganz platt walzen, aber nicht zu dünn… siehst du? Komm, probier es auch mal. Ein wenig Mehl unter den Teigklumpen streuen, damit er nicht klebt… ja, gut so.“ Was sich so diffus anhört, ist die Herstellungsanleitung für Piroggen; zumindest ein Teil davon. Denn nachdem der Teig angemacht und gewalzt ist (eigens dafür hat Oma ihre alte, hölzerne „Stolnica“ aus dem unteren Schrank geholt), müssen die Piroggen ausgestanzt, befüllt, geschlossen und ins kochende Wasser gegeben werden. Piroggenformen? Vergiss es. Die waren auch nicht notwendig. Zum Ausschneiden der Kreise nutzte Oma ein einfaches Wasserglas. Das Befüllen war tricky, denn es dürfte nichts von der Füllung auf die Ränder der Piroggen gelangen. „Sonst schließen sie nicht und die Pirogge geht beim Kochen auf. Komm, magst du sie ins Wasser werfen?“ Da stand er vor mir, der auf dem Gasherd brodelnder, riesiger Topf. Das Wasser kochte und zischte, und doch brachte Oma mir bei, keine Angst davor zu haben. „Die Hand ganz nah an das Wasser – keine Angst, da passiert dir nix. Und jetzt die Pirogge sachte reingleiten lassen. So! Siehst du?“ Ich drehte mich zufrieden zu Oma und meine Augen glänzten. Hätte ich die Piroggen von weit oben ins Wasser geworfen, so hätte das hoch spritzende Wasser mich verbrannt. So aber ist nichts passiert.
Mehr oder weniger unbemerkt erlernte ich von Oma die Grundlagen des Kochens und Backens. Ohne dass es mir bewusst wurde, weiß ich heute mehr über selbstverständliche Vorgänge bescheid als mir lange bewusst war. Alles, alles brachte Oma mir bei, von Suppen über Kuchen backen bis hin zum Einmachen von Obst und der Herstellung von Kompotts. Und nein – falls manche von euch jetzt mit Lätzchen um den Hals und Besteck in der Hand vor meiner Tür stehen und bekocht werden wollen – ich koche noch immer nicht gerne und behaupte weiterhin, es nicht zu können. Doch so ein Bisschen polnische Küche? Ich glaube, das würde ich hinkriegen. Oma sei Dank.
Rechts vom Schwarzweißbild meiner Oma, wie sie mich mit dem Fleischklopfer bedroht, ist ein umrahmtes Schriftstück zu sehen. Dieses vergilbte, in zittriger Schrift und hin und wieder einem Rechtsschreibfehler versetzte Papier ist, was Familienrelikte betrifft, mit mein kostbarster Besitz, denn es ist die Anleitung für Omas legendären, einmaligen, geschichteten Apfelkuchen. Lange hatten meine Mutter und ich das Rezept für verschollen gehalten. In Wahrheit hatte es sich nur irgendwo zwischen Kisten und Kartons, zwischen alten Sachen und alten Büchern verborgen. Omas Apfelkuchen war der leckerste Kuchen und egal, was es zu Weihnachten oder zu Ostern sonst noch alles gab – mit Omas Apfelkuchen habe ich mir den Bauch vollgeschlagen.
Selbst jetzt beim Nähen muss ich an meine Oma denken. Der Tod eines Menschen erreicht einen nicht sofort, die Trauer kommt stückchenweise, nach und nach, manchmal erst nach Jahren. Es ist keine dramatische Trauer, als wenn du zerreißt. Es ist vielmehr so, als wenn dir plötzlich der rechte Arm fehlt und du merkst jeden Tag aufs Neue, dass du lernen musst, alles mit dem linken zu machen. Du kannst nichts mehr fragen.
„Fädel mir mal den Garn in das Nadelöhr ein, Kind.“ Höre ich Omas Stimme in meinem Kopf, während ich den Faden einlege. „Meine Augen sind nicht mehr so gut.“ Den „Naparstek“ von Oma habe ich noch. Alles, was ich an Andenken wollte – und das war nicht viel – habe ich mir gesichert. Das silberne Teil, welches Oma immerzu beim Nähen am Finger trug, begleitet jetzt mich. Ja, eigentlich wollte ich jetzt nähen. Stattdessen sitze ich nun seit einer halben Stunde da und tippe diesen Beitrag. Und die Worte fließen von alleine, so wie es manchmal ist. Eigentlich wollte ich nähen.
Das ist tatsächlich etwas, was junge Leute heute nicht mehr „erleben“ – dieses einbinden und lernen von wichtigen Dingen, die man im späteren Leben braucht – wobei viele Dinge ja heute mehr und mehr von Dienstleistern übernommen wird. Socken stopfen war vor 50 Jahren noch nötig und gehörte zu den täglichen anfallenden Aufgaben. Heute sind die Tage anders getaktet und in der Zeit, in der man Löcher stopft kann man eher 3 paar online kaufen- wenn man den Zeitaufwand rechnet ist man da noch besser bedient.
Trotzdem ist es immer gut Dinge zu können – selbst wenn man sie niemals braucht. Kochen zum Beispiel ist ein Skill, den ich erwarten würde – selbst wenn es nicht zu einem 5 Gänge Menü reicht.
Es gibt sicher auch Kritiker, die monieren, dass man durch das erlernen von „Hausfrauen-Arbeit“ in eine verhasste vorbestimmte Geschlechter-Rolle gepresst wird – was ich für Blödsinn halte. Ich habe auch viel von meiner Oma gelernt – und bin auch dankbar dafür, dass ich viel davon für mein späteres Leben gebrauchen konnte.
Auch meine Oma war nicht einfach und hatte mehr als eine Macke – aber so ist das halt, das leben ist eben nicht „social Media“, wo man Menschen, die einen nerven einfach blockt und man ist sie los. Im wahren Leben muss man mit denen klarkommen. Und das ist eben auch ein wichtiger Skill, den man lernen muss…
Wir haben gelernt, es uns einfach zu machen. Ob es mit Haushaltsdingen ist oder mit Menschen, überall herrscht eine „Austausch-Mentalität“. Die Socken haben Löcher? Okay, Amazon wird aufgeklappt. Der Partner passt nicht? Next please. Meine Familie ist nicht immer einfach, aber das bin ich auch nicht. Es ist verdammt schwierig und herausfordernd, mit anderen Menschen umzugehen, aber man bekommt so viel zurück. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, auch darüber, wie ich früher auf natürliche Weise in die Hausarbeit eingebunden wurde. Kinder wollen lernen, sie wollen helfen, sie wollen mitarbeiten. Ich hatte mit meinen Großeltern auch auf dem Feld Zwiebeln geerntet im Alter von 6+ Jahren und ehe hier einer „Kinderarbeit“ schreit, nein so war das nicht. Weil ich erstens nicht die Arbeit einer erwachsenen Person machen konnte, zweitens war ich vielmehr dabei, damit sie mich im Auge behalten konnten, drittens hat es Riesenspaß gemacht. Und viertens: Zeit zum Spielen hatte ich immer. Ich MUSSTE absolut nichts. Heute werden Kinder von Aufgaben ferngehalten, doch so richtig beschäftigen tut sich keiner mit ihnen und Social Media übernimmt die Erziehung. Okay, mit einigen Ausnahmen. Ich habe schon Eltern erlebt, bei denen das anders läuft und die sich Zeit nehmen für Reden, Zeigen, Erklären. Und so ist es richtig, denn Kinder haben von Klein auf schon den Drang, uns zu imitieren. Im Grunde tun sie nicht, was man ihnen sagt, sie tun, was wir tun.
Und da ich selber keine habe, kann ich die besten Erziehungstipps geben, fällt mir grad so auf 😉