Das Mädchen in Mali lebt rund vierhundert Kilometer von Bamako, der Hauptstadt entfernt. Im von Wüstenlandschaft geprägten Mali ernähren sich viele Menschen von der Landwirtschaft. In guten Jahren reicht es, um Familien zu ernähren – in Zeiten von Dürren oder Heuschreckenplagen nicht. Es gibt nichts, was die Landbevölkerung dort sonst tun kann, denn weit und breit fehlt es an jeglicher Art von Industrie. Das traditionelle Leben steht an oberster Stelle. Mali ist ein islamisch geprägtes Land und die Beschneidung von Mädchen gerade in ländlichen Regionen an der Tagesordnung.
Das Mädchen in Mali gehört zur Volksgruppe der Soninke. Sie lebt mit ihren Eltern und Großeltern, ihrer Schwester und ihrem Bruder in einem Dorf im Gebiet Diangounte. Sie spielt gerne Kochen und ihr Sternzeichen ist Steinbock. Sie ist elf Jahre Alt. Ihr Name ist Niame. Wie Name, nur mit i.
Als ich sie zum ersten Mal erblicke, schaut mir ein scheues Gesicht vom angehängten Bild entgegen. Fast verschwindet Niame unter ihrem schwarzen Kopftuch, das sowohl den Kopf- als auch den Schulterbereich bedeckt. Ich weiß nicht viel über sie, doch das muss fürs erste reichen.
Ich überlege hin und her. Welches Bild von mir schicke ich der Kleinen? Was will ich über mich erzählen? Was lieber nicht? Welchen Teil meines Lebens, unserer Welt hier will ich ihr zeigen? Was werde ich schreiben, vor allem so, dass sie es versteht?
Hier ist vermutlich nicht die Sprache das Problem. Niame besucht eine Schule und besitzt rudimentäre Englischkenntnisse. Doch ich glaube nicht, dass das Konzept einer kinderlosen Frau von über dreißig, die mit ihrem Freund (oder auch alleine) durch die Welt tingelt und derer Eltern ein Land weiter leben, ihr etwas sagen oder für sie begreiflich sein wird, in einem Land, dessen Kultur und dessen Leben sich um die Familie dreht.
Also schreibe ich stichpunktartig. In Klarschrift. Lege ein Bild bei, auf dem ich breit lächle. Aus dem Drucker – „normale“ Fotos habe ich schon lange nicht mehr, alles ist digital geworden in dieser, meiner Welt. Das Projekt bietet auch die Möglichkeit, dem Mädchen eine E-Mail zu schicken, doch ich will, dass sie etwas hat, das sie in die Hände nehmen kann; etwas, von dem sie weiß, dass es den langen Weg über das Meer und über die Wüste bis zu ihr gefunden hat. Ich male mir aus, wie sie den Brief zusammen mit einem Mitarbeiter der Entwicklungshilfe Stück für Stück, Wort für Wort lesen wird. Vielleicht zusammen mit einem Volunteer.
Mali ist ein, wie es in den wenigen Presseartikeln bezeichnet wird, „gebeuteltes Land“, in dem seit Jahren Unruhen herrschen. Der Bürgerkrieg, der 2012 erst endet, hinterlässt unausgesprochene und unausgetragene Konflikte, die sich immer wieder in Gewalt entladen. Trotz alledem haben die westlichen Medien diese Konflikte kaum auf dem Schirm, so vieles passiert um uns herum, das akuter ist; an so vielen Orten gärt es. Als ich zuletzt im Radio über Mali hörte, griffen bewaffnete Milizen Dörfer an, vergewaltigten und ermordeten Menschen. Es war eine Randnotiz von 2018 beim Dlf Radiosender.
Die Menschen in Diangounte leben in kleinen, selbst gebauten Lehmhütten. Die Dorfältesten entscheiden über das Geschehen. Falls es Schulen gibt, so sind sie überfüllt und die Wege dorthin weit. Auch wissen viele Eltern nicht um den Wert guter Schulbildung; speziell Mädchen wird diese oft verwehrt. Wenn sie früh heiraten, wars das.
Was ein Hilfsprojekt den Menschen gibt, ist nicht bloß Geld. Der Boden ist nicht besonders gut für die Landwirtschaft geeignet, doch mit einfachen Mitteln lassen sich die Erträge der Ernten steigern. Widerstandsfähige Gemüsesorten können angebaut werden. Rücklagen werden geschaffen für schlechtere Zeiten. Wie verhält man sich in Zeiten von Naturkatastrophen und welche Vorkehrungen müssen getroffen werden? Wie werden Latrinen gebaut? Brunnen instand gehalten, damit die Wasserqualität auf Dauer gut bleibt? Wichtig ist, all das Wissen und know how an die Bevölkerung weiter zu geben.
Ich weiß nicht viel über Mali. Wie komme ich darauf, ausgerechnet dort ein Mädchen zu „adoptieren“?
Es passiert an einem trüben, kalten Herbsttag in Bonn. Zu dieser Zeit sind Wohltätigkeitsorganisationen gerade verstärkt aktiv und so gerate ich in die Fänge eines netten, jungen Mannes, auch ehemaliges Kind aus einem Projekt, wie er mir erzählt. Die Unterstützung, die er erfahren hat, möchte er weiter geben. Als es darum geht, mir ein Land willkürlich auszusuchen, schwebt mein Finger über der Karte von Afrika und landet auf Mali.
Bewegen wir uns ein Stück zurück in der Zeit. Es war in Paris im Jahr 2016. Kasia hat die irre Idee, die Metropole ganz alleine über drei Tage zu erkunden. Ich plane nichts, ich fahre einfach los, nach Feierabend, an einem Freitag Abend. Fahre über Nacht, stelle mein Auto irgendwo im Elsass ab und schlafe. Kaufe am nächsten Morgen im nahe gelegenem Supermarkt eine Zahnbürste. Fahre weiter durch bis Paris.
Dort verbringe ich eine tolle Zeit. Bin beeindruckt von der Stadt, von ihrer Schönheit und unerwarteter kultureller Vielfalt. Vom leckeren Essen, von den köstlichen Konditoreien. Gerade die Bezirke, die allgemein als „gefährlich“ eingestuft werden, haben es mir angetan. Die Randgegenden mit dem hohen Migrantenanteil, wo Araber, People of Colour und die unterschiedlichsten Ethnien zusammen leben. Dort fühle ich mich wohl.
Nach diesen drei Tagen soll es zurück nach Hause gehen. Mein Auto steht am Rande von Paris und ich irre im Zentrum umher und finde nicht zurück. Die Metro hat sich für mich zu einem unüberbrückbarem Hindernis entwickelt, die Pläne zu einem unlösbaren Rätsel. Ich habe mich verfahren, ich habe mich verlaufen. Und da ist plötzlich dieser schwarze Mann neben mir und fragt mich, ob ich seine goldene Kette kaufen möchte.
Der Mann heißt Drissa. Er kommt aus Mali. Eigentlich will ich nur den Weg zur nächsten Metro-Station wissen, doch spontan entschließt er sich, mit mir zu kommen. Er habe gerade nichts zu tun, sagt er, er werde mich zu meinem Auto bringen. Und das tut er auch. Er fährt mit mir zusammen durch ganz Paris, bis wir wieder vor meinem Fahrzeug stehen, das wohlbehalten in einem dieser vermeintlich „gefährlichen“ Bezirke auf mich wartet. Er will nichts dafür. Er habe es aus Nettigkeit getan.
Während der Fahrt reden wir viel. Ob ich Mali kennen würde, will er wissen. Meine Kenntnisse der afrikanischen Länder sind zu dieser Zeit eher rudimentär. Dann vielleicht Timbuktu? Ja, Timbuktu habe ich schon mal gehört. Er lacht. Keiner kennt Mali, sagt er, aber jeder kennt Timbuktu. Und dabei ist Timbuktu nicht einmal die Hauptstadt des Landes, das ist Bamako.
Als ich das Mädchen zum zweiten Mal sehe, hat sie sich gewandelt. Es ist auch einige Zeit vergangen, es dauert lange, bis Briefe aus der Wüste Deutschland erreichen. Das Projekt Diangounte kann zur Zeit von Paten nicht besucht werden, zu groß ist die Gefahr, als Weißer entführt oder getötet zu werden. Auch kommt es immer wieder zu Anschlägen, vor allem in der Hauptstadt. Das Auswärtige Amt gibt für Mali eine Teilreisewarnung ab, von nicht notwendigen Reisen wird abgeraten. Der letzte Anschlag in Mali liegt gerade erst einen Monat her: 18 Blauhelm-Soldaten und zwei Zivilisten wurden angegriffen und durch Schüsse verletzt. Selbst UN-Missionen in dem Land sind lebensgefährlich.
Niame hingegen hat sich wunderbar entwickelt. Aus dem kleinen Gesicht, das mir schüchtern vom Bild entgegen blickte, schaut mich nun eine lachende junge Frau an. Das Kopftuch ist weg, stattdessen zieren kleine, geflochtene Zöpfchen ihren Kopf. Der strenge Islamismus war nur aufgezwungen, er ist nicht die eigentliche Seele Malis.
Etwas über ein Jahr bin ich schon Patin. Es ist zweifelhaft, ob ich Niame und ihr Dorf je sehen werde. Aber darauf kommt es nicht an. Was wichtig ist, ist die Entwicklung der Region. Ihre Schulbildung. Ich sehe die Chancen des Mädchens realistisch in diesem gefährlichen Land, doch mit einer Grundausbildung wird es ihr vielleicht möglich sein, in die nächst größere Stadt zu gehen und nach Arbeit zu suchen.
Oder ist es naiv von mir, das zu glauben? Im Grunde ist Mali kein komplett rückständiges Land, es ist nur der Terror und die bewaffenten Unruhen, die eine Entwicklung, wie sie sein könnte, momentan unmöglich machen. Doch schon morgen kann sich die Lage wieder bessern, schon übermorgen können wieder Touristen ins Land kommen so wie damals, in der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Die Menschen wollen die Zeit der Gewalt und des Krieges hinter sich lassen, sich der Welt öffnen. Sie warten auf Besucher, die nicht kommen. Noch nicht. Noch ist es zu gefährlich.
Das Land hat viele historisch wichtige Sehenswürdigkeiten zu bieten, davon allein vier Welterbestätten der UNESCO. Die Musikszene Malis ist weltweit bekannt. Das Festival au Desert, welches bis 2012 jedes Jahr am Fluss Niger stattfand, lockte Besucher aus der ganzen Welt. 2012 brach der Bürgerkrieg aus. Islamisten legten halb Mali die Scharia auf, das Festival wurde verboten. Der Norden des Landes stand unter Kontrolle der islamistischen Einheiten. 2013 mischte sich Frankreich, die ehemalige Kolonialeinheit ein und drängte die Islamisten zurück.
Seit 2015 gibt es das berühmte Musikfestival wieder, unter neuem Namen und erheblichen Sicherheitsvorkehrungen wurde es wiederbelebt: das Festival sur le Niger. Auch einige wenige Weiße trauen sich inzwischen hin und es gibt Veranstalter, die organisierte Reisen zum Festival anbieten. Mali hat Potential.
Informationsquellen: World Vision, Spiegel, Süddeutsche Zeitung