Deutschland, Europa

Wiesbaden – Man hatte sie an die Kirchentür geheftet…

Wiesbaden, Juli 2017

Luthers 95 Thesen am 31.10.1517, die mit lauten Hammerschlägen an die Wittenberger Schloßkirchentür gehämmert worden sein sollen?

Ja, die auch – zumindest der Legende nach. Aber auch noch etwas anderes. Und zwar in Wiesbaden.

Wiesbaden ist immer für eine Überraschung gut, und die rote Linie, die ich in Bonn vermisse, ist hier klar zu erkennen: Es sind die Villen, die filigranen Hausfassaden mit den zierlichen Verzierungen, die die Straßen wie ein Band säumen. In der Innenstadt hebe ich den Kopf und betrachte die Blütenmuster, die schlanken Säulen und die grazilen Balkone. Und in einem der Wiesbadener Villenviertel wandere ich im Schatten der hohen, schattigen Bäume die schmalen Straßen entlang, inmitten vom vielen Efeu, das sich die Hausfassaden empor rankt, passiere Wintergärten und Blumenbepflanzte Veranden, geheimnisvolle Hexenhäuschen, die noch aus der vorhergegangenen Epoche zu stammen scheinen (und es wahrscheinlich auch tun) und schleiche voller Widerwillen an spritfressenden Luxuskarossen vorbei. Fasziniert fühle ich mich hier – und abgestoßen zugleich. Doch die Häuser; die Häuser sind Kunst.

Vor allem ist W-Sonnenberg eines der schönsten und bekanntesten Villenviertel und mit seiner Burgruine häufig auch ein Besuchermagnet.

Doch nicht nur Reichenviertel gibt es hier zu finden, sondern auch etwas, das meinem Herzen viel näher liegt: Und zwar viel Streetart-Kunst. Dies hier ist die Stadt, die mich den Lenker zur Seite reißen lässt, die mich zum Anhalten bringt, um mich anschließend an irgendwelchen Wänden und Brücken entlang zu drücken und zu fotografieren, was mir dort ins Auge sticht: Kunst. So vieles habe ich schon gefunden und auch wenn ich glaubte, bereits so gut wie alles hier gesehen zu haben; mitnichten, denn die Stadt sorgt immer mal wieder für Nachschub.

So gibt es das Kontext, ein Haus, welches sowohl als Bistro als auch als Veranstaltungsort für Musikevents fungiert. Nach außen hin scheinbar verlassen und über und über mit Graffiti verziert erwacht es abends zum Leben. Schon einmal im Frühjahr habe ich dieses Haus bereits fotografiert, doch auch diesmal, in Juli, überraschte es mich immer noch: So entdecke ich darauf einige ganz neue Werke, die ich beim letzten Mal noch nicht gesehen habe.

Das „Kontext“

„Was wissen Sie denn über dieses Haus?“ Frage ich die Mitarbeiterin einer nahe gelegenen Apotheke und erkläre ihr, dass ich hier immer drumherum schleiche und die Kunst bewundere.

„Das ist ein Musikclub.“ Sagt sie mir. „Es treffen sich dort Leute und es gibt Tänze und urbane Musik. Und die Hausfassade wird immer mal wieder neu gestaltet.“ Oha, hört sich etwas alternativ an, aber gut; es wird noch eine Zeit geben, da werde ich dort hinein spazieren und mit die Trommel schwingen, das nehme ich mir fest vor.

Es gibt eine regelrechte Graffiti Szene hier in der Stadt und die Stadt stellt viele legale, freie Flächen für die Künstler zur Verfügung.
Das SPRAYART Meeting of styles ist ein internationales Treffen der Graffiti Künstlerszene, welches hier jedes Jahr in Juni stattfindet (das letzte Treffen habe ich leider verpasst…) und welches zeigen will, dass es sich hierbei nicht um Vandalismus, sondern um Kunst handelt. Rund 130 Künstler haben sich hier ausgetobt und die zur Verfügung gestellten Wände, Brückenpfeiler und Hausfassaden neu gestaltet. Die Werke bleiben bis zum nächsten Event bestehen und können nach Belieben besichtigt werden (und ratet mal, wo mich die nächste Wiesbadener Tour hinführen wird…).

Auch das ehemalige Schlachthof südlich vom Hauptbahnhof ist heute zu einem Kulturzentrum geworden. Rundum neu gestaltet hat es mich schon mehr als einmal zu einem Spaziergang verleitet.

Wiesbadener „Schlachthof“

Verlassen wir die Künstlerszene und kommen zu etwas anderem, das mir in der Stadt außerordentlich gut gefällt: Die Wiesbadener Marktkirche. Im neugotischen Stil erbaut erscheint sie mir so anders als alles, was ich bis dahin gesehen habe; steil und geradlinig streben die schlanken Türme empor und heben sich ganz klar vom Himmel und vom restlichem Stadtbild ab. Zierlich und doch ohne irgendwelches überflüssiges Geschnörkel ist sie für mich eine der meist beeindruckenden Kirchen, die ich je gesehen habe.

Ganz anders als manch andere große Kirchen, die, über Jahrhunderte hinweg erbaut, zerstört und immer wieder neu gestaltet wurden, so dass man ihnen die verschiedenen Baumeister direkt ansehen kann, ist dieser Backsteinbau von einer beeindruckender Gleichmäßigkeit der Form. Zierlich, doch nicht verziert; gerade, steil nach oben, die Türme von einer fast schon aggressiven Schärfe zeigt sie eindrucksvoll, dass weniger oft so viel effektvoller sein kann.

Und als ich letzte Woche die Glocken eben dieser Kirche auf dem Kirchplatz ertönen höre, beschließe ich trotz Zeitmangel spontan, dass ich da jetzt hinein gehen werde.

Doch vor der Kirchentür stehend beginne ich erst einmal zu lesen. Unzählige weiße Zettel sind mit Nägeln an ebendiese Tür geheftet worden und flattern im Wind; sie ziehen auch die Blicke anderer Menschen wie magnetisch an, die stehenbleiben, schauen, wissen wollen, was das hier eigentlich soll. Und in diesem Moment muss ich an Luther und seine Thesen denken, denn die Parallelen sind offensichtlich; wenn auch diese Aktion hier, wie ich befürchte, keine besonders weitreichenden Folgen haben wird.

Denn es dreht sich hier um ein Thema, welches auch mir am Herzen liegt: Nieder mit Fremdenhass! „Wir sind und bleiben bunt.“ – Betonen die Aussagen. „Kein Mensch ist illegal.“ Und mein persönlicher Favorit richtet sich an all jene, die sich, beinahe scheinheilig anmutend, in ihren Versuchen, ihre Angst und Feindseligkeit Fremden gegenüber zu begründen, auf die abendländische Kultur und christliche Religion beziehen. Er lautet: „Wer die Nächstenliebe vergisst, soll sich nicht auf die christliche Kultur berufen.“ Jap, mir geht das Herz auf.

Was sich hier nach einer Protestaktion eines Verrückten und nach grober Sachbeschädigung anhört (immerhin schätzt man das Holz des uralten Portals auf eine Zeit vor 1868), ist in Wahrheit eine Aktion der evangelischen Kirche, und mit Luther hat das Ganze auch irgendwie etwas zu tun. Anlass ist das 500 Reformationsjubiläum des derzeit laufenden Lutherjahres und die Idee und ich muss zugeben, die Botschaft von Toleranz, Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe direkt an das Holz der Türen zu hämmern ist für mich eine mutige, kompromisslose Sache. Ich bin voller Bewunderung. Heute vor 500 Jahren hat Luther genauso kompromisslos seine Botschaft verbreitet, in einer Zeit, in der man für eine solche Tat noch sehr viel riskierte.

Doch auch andere, kontroverse Themen werden behandelt: So schreibt beispielsweise der Club 50+: „Wir wollen wissen, wo unsere Kirchensteuern landen!“

Am 14 Juli (gestern also) sollen die Nägel und die Botschaften aus der Kirchentür entfernt werden, die Aktion sei damit abgeschlossen. Und die Tür soll sowieso saniert werden; aus diesem Grund ist die Entscheidung getroffen worden, die Aktion mit dem Einschlagen der Nägel so authentisch wie möglich zu machen.

Kasia

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