Europa, Polen

Warschau – Stefan und meine Mutter verstehen sich prächtig…

Warschau, Dezember 2015

Ich bin in Polen aufgewachsen, insofern kenne ich Warschau schon. Doch diesmal wird es ein bisschen anders sein; diesmal kommt Stefan mit, um meine Familie kennen zu lernen und das erste Mal Weihnachten mit uns zu feiern.

 

„Bleibt der Herr über Nacht?“ – Stefan und mein Opa

Es ist unmöglich, sich früher loszureißen. Der Job hält mich fest – bis zum letzten Moment.

Als wir endlich nach einer stundenlangen Fahrt in meiner polnischen Heimatstadt ankommen, ist der erste Weihnachtstag bereits angebrochen. Der kleine, polnische Ort Blonie liegt etwa eine Stunde Fahrzeit westlich von Warschau entfernt.

Den Heiligabend verbringen wir im Auto. Fahrend. Oder an der Raststätte. Was tut man nicht alles für den lieben Job…

Bei meiner Mama in Blonie angekommen begrüßen und drücken wir uns erst einmal der Reihe nach. Der Hund wedelt freudig mit dem Schwanz und tobt in seinem Swinger. Wir tragen unsere Sachen in die Wohnung und mein Opa fragt mich, ob Stefan der Taxifahrer sei. „Nein, Opa. Wir sind zusammen hier. Das hat dir meine Mama doch schon erzählt.“

„Aha.“ Er schaut uns etwas ratlos an.

Mein Opa ist zweiundneunzig und auch etwas vergesslich. Inzwischen vergisst er das meiste sofort wieder. So fragt er mich ein paar Augenblicke später wieder mit Blick auf Stefan, ob „der Herr“ denn jetzt hier bleibt. „Zeig dem Herrn doch, wo er schlafen kann.“ Sagt er zu meiner Mutter,  ritterlich um meine Ehre besorgt, als er sieht, dass Stefan selbstverständlich seine Sachen neben meinen am Kopfende unserer Schlafcouch platziert.

„Opa!“ Meine Mutter faltet ratlos die Hände. „Komm, es gibt gleich Essen.“ Geschickt lotst sie ihn in die Küche.

Währenddessen schaue ich mich in der Wohnung um. Meine Mama hat sich in der Zwischenzeit schön eingerichtet, das ganze Haus ist dekoriert. Neben der Schlafcouch steht eine weihnachtlich geschmückte Topfpalme.

Das Weihnachtsessen. Wir sitzen am Tisch, die Katze schleicht um uns herum und beäugt mich misstrauisch. Dann lässt sie sich am Kopfende der Couch nieder. Opa scheucht sie wieder weg. „Opa, lass…“ Sagt meine Mutter.

Nach dem Essen. Opa schleicht um den Tisch herum und beäugt Stefan misstrauisch. Er sagt aber nichts mehr.

Nach dem Essen gibt es Wodka. Selbstgemachten Honigwodka natürlich, was sonst. Ein altes Familienrezept. Opa besteht jedesmal darauf, ihn selbst anzurühren und erzählte bei dieser Gelegenheit immerzu die Geschichte, wie ihn seinerzeit der Honigwodka von seinem Magenleiden kuriert hatte.

Der heutige Tag läuft unter dem Motto: Warschau besichtigen. Meine Mama nehmen wir gleich mit, damit sie sich von der Pflege ihres Vaters erholen kann und einen freien Kopf bekommt. Opa ist 92 Jahre alt. Er braucht ganz viel Zuwendung, macht kaum etwas alleine. Und manchmal wird ihr das zu viel. „Ein wenig Ruhe möchte ich.“ Sagt sie dann. „Zeit für mich alleine.“

 

Die Warschauer Altstadt

Die Warschauer Altstadt ist wunderschön und weihnachtlich dekoriert, überall hängen Lichter und Sterne, hier und da klingt stimmungsvolle Musik durch die Gassen. Wir parken am Hotel Wiktoria und gehen zu Fuß weiter über die sog. Krakauer Vorstadt. So nennt sich der Teil der Altstadt, der vom Hotel zum Königsschloss führt. Wir laufen eine lange Allee entlang, gesäumt von prachtvollen Bauten.

Die Altstadt besteht aus hübschen, farbigen Steinhäusern und engen, stimmungsvollen Gassen. Sie wurde nach ihrem Wiederaufbau in die Liste der Welterbe der UNESCO aufgenommen. Was viele nicht wissen: es handelt sich hierbei um die wohl jüngste „Altstadt“ der Welt.

Doch nein, dies ist in keinster Weise ein Fake. Im Zweiten Weltkrieg während des Warschauer Aufstands wurde die komplette Altstadt bombardiert. Kein Stein lag mehr auf dem anderen – die Schwarzweißfotografien der zerstörten Stadt dokumentieren es. Rund neunzig Prozent der Altstadt wurden dem Erdboden gleich gemacht, nur sechs Häuser überstanden die Bombardierung.

Doch in weniger als fünf wurde sie wieder aufgebaut. Die Kirchen und Kathedralen nicht miteingerechnet, denn hier dauerte die Rekonstruktion länger. Ein symbolischer Beginn für den Wiederaufbau war das Jahr 1947, doch mit den Plänen des Aufbaus wurde bereits 1939 begonnen. Einen erheblichen Anteil am Aufbau hatten die Warschauer selbst, die in Gruppenarbeit den Schutt aus der Stadt schafften.

Originalgetreu – na ja, fast. Hier und da fehle ein Detail, möge ein Historiker monieren; hier und dort ist ein Schnörkel weniger an der Fassade zu sehen. Doch für das vom Krieg zerstörte Polen war das eine Riesenleistung. Und der starke Wille der Menschen, ihre Geschichte nicht ausradieren zu lassen.

 

Der Präsidentenpalast

Der Präsidentenpalast wird streng bewacht. Er wurde 1645 errichtet und diente einflussreichen Magnatenfamilien als Wohnsitz. Während seiner Geschichte wurde der Palast einige Male umgebaut, unter anderen befand sich 1762 ein Theater im Hauptgebäude.

1818, noch ehe Polen seine Unabhängigkeit erlangte, war der Palast Sitz der russischen Statthalter. In dieser Zeit wurde auch der Schlossplatz mit den Löwen erschaffen. Eine Statue von Iwan Paskiewitsch, Marschall der russischen Armee, wurde nach Erlangen der Unabhängigkeit zerstört.

Während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg nutzte man den heutigen Präsidentenpalast als sog. Deutsches Haus, ein Zentrum für Deutsche in Polen. Erstaunlicherweise überstand der Bau den Warschauer Aufstand fast unbeschadet. Er ist seit 1995 Regierungssitz des polnischen Präsidenten, zuletzt Andrzej Duda.

 

Der Warschauer Barbakan

Wir lassen uns einfach in der wogenden Menschenmenge treiben, am Königsschloss vorbei in Richtung Barbakan, einer beeindruckenden Befestigungsanlage aus dem 16 Jh. Von einem Graben umgeben, führt eine Brücke durch das massive Tor ins Innere der Festung.

Die um 1548 errichtete Festung diente mit ihren dicken Mauern lange Zeit der Verteidigung der Stadt. Der Zugang zur Stadt wurde durch das große Tor begrenzt, da, wo jetzt Kunsthändler mit ihren Gemälden sitzen. Seitlich des Übergangs verläuft noch heute ein Graben. Überquert man das Tor, so erreicht man die malerische Altstadt.

Eine echte Verteidigungsfunktion erfüllte die Festung am Ende de facto nicht, da bereits bei ihrer Errichtung die Artillerie soweit fortgeschritten war, dass man den Bau schon damals als Artefakt bezeichnen konnte. Bis auf ein Ereignis, nämlich die Schwedische Sintflut, wo der Barbakan eine Rolle bei der Rückeroberung der Stadt spielte.

Ansonsten wurde bereits im 18 Jahrhundert mit dem Abriss des heutigen Wahrzeichen Warschaus begonnen, um das Baumaterial für die Entstehung neuer Mietshäuser zu verwenden. Die pragmatisch eingestellten Polen befanden, dass Wohnen wichtiger ist als leere Hülsen; erst später entwickelte sich ein Bewusstsein für die Erhaltung dieses Teils der Geschichte.

Während der Belagerung von Warschau 1939 wurde die Altstadt komplett zerstört und kein Stein stand mehr auf dem anderen. Man beschloss nach dem Krieg, anstatt der zerstörten Mietshäuser den Barbakan aufzubauen; ein neuer Bezug zur eigenen Geschichte war entstanden.

Der Barbakan

Links und rechts haben Künstler ihre Werke und Händler ihre Souvenirs ausgestellt: von geschnitzten Babuschkas über bunte Gemälde bis hin zu Tassen mit Altstadtmoviten ist alles dabei, was das Touristenherz begehrt und so manches Mal juckt es mich in den Fingern, etwas zu kaufen. Es werden schließlich zwei bemalte Erinnerungstassen, so ganz ohne irgendetwas kann ich dann doch nicht weiterlaufen.

Die Sonne scheint und ich bin in absoluter Hochstimmung. Ich bin glücklich, Stefan all dies hier einmal zeigen zu können. Die schöne Altstadt, die Menschen… das ist alles meins. Und ich freue mich, dass es ihm gefällt. Es ist fast so, als wenn man jemandem, der zum ersten Mal im trauten Heim zu Besuch ist, alles präsentieren möchte und gleichzeitig hofft, dass er die Krümmelreste in der Ecke hinter der Couch nicht entdeckt…

 

Am Königsschloss

Stefan und meine Mutter verstehen sich prächtig, trotz ihrer skeptischen Blicke, die sie ihm immer wieder von der Seite zuwirft und die er geflissentlich übersieht. Sie diskutieren angeregt miteinander und er glaubt bereits, einige meiner Eigenheiten bei ihr entdecken zu können. Das Schmollen zum Beispiel.

Unweit des Marktplatzes entdecken wir ein gemütliches jüdisches Restaurant. Das Lokal ist bis zum Bersten voll -doch  nach einer kurzen Wartezeit werden sogar vier Plätze für uns frei. Und ich muss sagen, ich habe schon lange nicht mehr so lecker auswärts gegessen wie hier. Selbst die Preise sind – entgegen aller Erwartungen – nicht… na ja, ich sag es mal so… auf europäisches Niveau angehoben. Sprich: Zwanzig Euro für uns alle drei – mit Getränken und Trinkgeld. Kleiner Wermutstropfen: die Toiletten sind kostenpflichtig, genauso wie die Garderobe. Aber die zwei Zloty (ca. 50 Cent) haben noch keinen arm gemacht… 🙂

Inzwischen ist es Abend geworden, und als wir wieder raus in die Dunkelheit treten, ist die ganze Stadt in ein festliches Licht getaucht. Die Weihnachtsbeleuchtung wird eingeschaltet, alles glitzert und leuchtet und an den Hausfassaden gleiten leuchtende Sterne lautlos zu Erde, als würden sie vom Himmel herab schweben. In der Mitte des Platzes hat man um das Denkmal herum eine Eislaufbahn aufgebaut, auf der jetzt Kinder toben, die großen schon alleine, während die kleinen mit glühenden Wangen die Hand ihrer Eltern halten. Was für ein Anblick.

Straßenhändler bieten Lichtstäbe und anderes unnützes Spielzeug an und wir versuchen, mit unseren Handykameras die bunten Lichter überall einzufangen.

Die Straßen sind noch voller geworden, so dass wir uns an den Händen halten, um uns gegenseitig nicht zu verlieren. Immer wieder schaue ich mich nach meiner Mutter um; da sie recht klein ist, habe ich Angst, dass sie mir irgendwo in der Menge abhanden kommt. Doch sie marschiert tapfer neben uns her. „Hier bin ich, schon gut.“ Sagt sie dann immer, wenn sie meine suchenden Blicke bemerkt.

 

Die Weihnachtssänger

In der langen Allee in der Krakauer Vorstadt hatte sich eine Menschentraube gebildet. Wir sind bereits wieder auf dem Weg zurück zum Auto. Neugierig geworden treten wir näher und entdecken fünf junge Männer in Fantasiekostümen, die Kolenden, also polnische Weihnachtslieder singen. Ihre Kostüme sind teilweise an alte Traditionen angelehnt, zum Teil erinnern sie auch an Uniformen. Ihre Stimmen sind klangvoll und kräftig. Sie singen ohne musikalische Begleitung, und so vermuten wir, dass sie in einem Chor sein müssen. Immer mehr Menschen bleiben stehen, um ihnen zuzuhören, und auch wir rühren uns nicht von der Stelle. Münzen landen klimpernd in der Sammelmütze, die auf dem Gehweg liegt. Die Jungs singen fantastisch, ein Lied nach dem anderen verscheucht die Kälte der Nacht, und alle Außenstehenden singen mit. Jedes Kind in Polen kennt diese Lieder. Jahr für Jahr werden sie zur Weihnachtszeit in allen Häusern gesungen und erfreuen das Herz.

Auch ich singe mit. Wir sind begeistert. Selbst Stefan, obwohl er die Texte nicht versteht. Doch die Stimmung reißt jedermann mit.

Ein Mann dräng an uns vorbei, fotografiert die singende Gruppe, dreht sich dann entschuldigend zu mir um. „Wissen Sie… ich will die Bilder in Deutschland zeigen, damit sie dort drüben sehen, dass sie keinerlei Traditionen haben!“ Ich antworte daraufhin nichts. Ich denke an die Aleman`sche Fastnacht, der wir in Schwarzwald beiwohnen durften, an all die wunderschönen Weihnachtsmärkte. Die Deutschen haben Traditionen, denke ich mir. Du hast dir nur noch nicht die Mühe gemacht, sie kennen zu lernen. Ich erwähne den Vorfall Stefan gegenüber nicht.

Die Menschen stehen wie verzaubert da. Und auch ich will am liebsten gar nicht mehr gehen. Doch irgendwann fängt meine Mama an zu quäken, wann wir denn endlich nach Hause kämen. Der Opa warte bestimmt schon auf uns. Irgendwann geben wir nach und schlendern langsam weiter in Richtung Auto.

Auf der Heimfahrt sind wir sehr still, keiner hat großartig das Bedürfnis, zu reden.

Zu Hause angekommen, sehen wir zu unserer Überraschung keinen erwartungsvollen Opa, der sehnsüchtig an der Tür steht.  Es erging ihm anscheinend gar nicht mal so schlecht; er hatte sich selbst vor den Fernseher geparkt und den Ton auf volle Lautstärke gedreht, so dass er uns nicht einmal kommen hörte. Siehst du, Mama? Alles ist gut.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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1 Kommentar

  1. […] Züge in Prag sehen wie die in Warschau aus und auch die Landschaft, die Häuser, die kleinen Orte, stellen für mich nichts unbekanntes […]

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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